TFW du deinen Job schon immer schrecklich fandest: Reporterin Marie-Luise Scherer

Die Grande Dame der Reportage

Für ihre Reportagen ringt Marie-Luise Scherer um den präzisesten Ausdruck

Marie-Luise Scherer ist eine Meisterin der Milieurecherche. Ihre lite­rarischen Reportagen faszinieren durch sprachliche Genauigkeit. Als ausdauernde Beobachterin und akribische Schreiberin hat Scherer ihr literarisches Schaffen selbst einmal als viel zitierte »Silbenarbeit« beschrieben. Manche Wörter sitze sie stundenlang ab, manche Sätze kosteten sie schon mal 40 Zigaretten.

1938 in Saarbrücken geboren, ist die berufliche Laufbahn der Autorin ebenso unkonventionell wie ihre Arbeitsweise. Ohne Abitur beginnt Scherer zunächst für lokale Zeitungen zu schreiben, bevor sie 1974 zum Spiegel kommt, wo sie sich schließlich als Grande Dame der Reportagenkunst einen Namen macht. Über zwanzig Jahre arbeitete Scherer als Berichterstatterin für das Nachrichtenmagazin, nur um während eines Interviews zum Reporterpreis rückblickend fest­zustellen: »Ich habe diesen Beruf eigentlich schon immer schrecklich gefunden.«

Marie-Luise Scherer ist keine literarische Produktionsmaschine. Auf bis zu hundert Seiten schlagen ihre Texte eine Brücke zwischen Journalismus und Literatur. Viele ihrer Berichte wurden daher auch als Bücher verlegt: »Der Akkordeonspieler« begleitet einen ukrainischen Straßenmusiker durch Berlin und den Kaukasus; »Die Bes­tie von Paris« schildert eine Mord­serie im Paris der 1980er Jahre.

Durch detaillierte Recherchen und wertfreie Schilderungen sind Scherers Reportagen beständige Zeitdokumente — »Die Hundegrenze« ist wahrscheinlich ihr wichtigstes. Erstmals 1994 veröffentlicht und mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet, wurde der Bericht über das Schicksal des Grenzhundes Alf am deutsch-deutschen Todesstreifen im letzten Jahr bei Matthes & Seitz neu aufgelegt. 30 Jahre nach dem Mauerfall und in Zeiten andauernder Flüchtlingsströme ist dieser DDR-Bericht im Spiegel des Wachhundsystems noch immer ein Meisterstück der Gesellschaftsbeobachtung. Gucken könne sie besser als fragen, hat die Silbenschmiedin einmal über ihre Schreib­arbeit gesagt. Was wir daher noch heute von Scherer lernen können: vor allem nicht weg zu sehen.