»Eine Frau« von Annie Erneaux

Stadtrevue liest

»Für mich hat meine Mutter keine Geschichte. Sie war schon immer da«, schreibt die französische Schriftstellerin Annie Erneaux 1987 nach dem Tod ihrer Mutter. Für ihr nur 90 Seiten langes Buch »Eine Frau« ist dieser Satz programmatisch. Erneaux bringt die Geschichte in das Leben ihrer Mutter zurück. Mit prägnanten und emotionalen Schilderungen beschreibt sie, wie es ihrer Mutter gelang, von der Hilfsarbeiterin zur Besitzerin eines Lebensmittelladens zu werden, wofür sie rigide Rollenvorstellungen verinnerlichte. Ihre Tochter sollte schließlich den sozialen Aufstieg der Familie vollenden: Sie studiert, wird Lehrerin und Schriftstellerin, schließlich heiratet sie ins Bildungsbürgertum, womit ein Riss durch die Familie geht. Erst im hohen Alter finden Mutter und Tochter wieder zueinander und werden durch die Demenz der Mutter erneut getrennt. Erneaux erzählt diese Geschichte mit einem klaren Blick für die Klassenverhältnisse und vergisst darüber nie die Person, die durch diese Verhältnisse geprägt wurde.


Suhrkamp, 88 Seiten, 18 €