Blick zurück auf den Brüsseler Platz: Dominik von Senger

Crash am Rudolfplatz

Dominik von Senger prägte mit seinen Bands den kölschen Underground der 80er Jahre. Dann folgte der Rückzug. Seit einigen Jahren will man seine quirlige Musik zwischen Krautrock und Free Funk aber wieder hören. Ganz aktuell ist eine LP mit frühen Aufnahmen erschienen: »Brüsseler Platz«. Anlass genug, mit ihm durch das Belgische Viertel zu streifen

Wie lernt man eigentlich Jaki Liebezeit, den Drummer von Can, kennen? Wenn man gerade 20 ist, eine Lehre als Druckvorlagenhersteller hinter sich hat, zwar mit Herz und Seele Gitarre spielt, aber höchstens im Traum zu denken wagt, Profi zu werden? Wie lernt man jemanden kennen, der schon zu Lebzeiten als der wichtigste und eigensinnigste Drummer seiner Generation galt? So einfach: »Jaki hat am Baum neben mir getrommelt«, erzählt Dominik von Senger, Jahrgang 1955. Irgendwann Mitte der 70er Jahre hat jemand ein Happening am Rhein bei Dormagen veranstaltet. Trommeln im Wald, vierzig oder fünfzig Leute organisiert, Busse gechartert, Freunden Bescheid gesagt, und dann sei man halt an den Rhein gefahren für ein Wochenende. »Profis und Amateure — die Unterscheidung war damals in Köln nicht so wichtig«, meint von Senger. Kontakt zu Can bekam man schnell. Die in heutigen Pop-Szenen gepflegten Rituale der Abgrenzung, Distanz und Überhöhung der eigenen Rolle gab es noch nicht, man musste halt spielen können. Und wenn man in Köln spielen wollte, musste man in Eckkneipen gehen, in die Bierkeller, erzählt von Senger, oder am besten in Schulaulen. »Wenn da Can gespielt haben, dann immer mit einer Schülerband vorweg, oder hinterher kamen die Bläck Fööss, weil die auch nicht so viele Auftrittsmöglichkeiten hatten. Oder Stockhausen. Alle auf einer Bühne.« Stell dir vor, sagt von Senger, »Can im Karneval, auf dem Medizinerball im Gürzenich, die haben da im Keller gespielt, alles violett ausgeleuchtet, 15 Leute im Publikum«.

Letzten Herbst kam uns Dominik von Senger in der Redaktion besuchen, seine neue Platte unterm Arm. Das Londoner Hipster-Label Inversions hatte gerade frühe, fast vierzig Jahre alte Aufnahmen von ihm ausgegraben: »Brüsseler Platz« , eine Hommage an einen Ort, den es so nicht mehr gibt — aber auch eine Brücke ins Heute. Die Collage aus Soundschnipseln und Stückfragmenten klingt radikal gegenwärtig: verspielte, quirlige Musik, völlig unbefangen, dabei immer eine Spur geheimnisvoll, immer verdreht, eine unbeschwerte, »exotische« Variante von Krautrock. Mit dabei: Jaki Liebezeit, der legendäre Percussionist Reebop Kwaku Baah, Helmut ­Zerlett. Von Senger kam ins Plaudern, erzählte von Hannelore, der exzentrischen Café-Besitzerin, die gerne Sängerin geworden wäre, die alte Can-Clique zusammentrommelte, nur um dann fürchterliche Musik einzuspielen. Er erzählte von Hinterhofstudios am Brüsseler Platz, vom Star-Produzenten Conny Plank, der fassungslos war, als die Punk-Band Syph, die er aufnehmen wollte, einfach nicht zum Termin erschien, von Patti Smith, der er seine Gitarre für eine Performance in der Ebertplatz-Galerie von Veith Turske auslieh, von Kneipen zwischen Moltkestraße und Rudolfplatz, von denen man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass es sie einst gegeben hat. Aber so war das, Ende der 70er Jahre. Keine Frage, wir wollten mit von Senger durchs Viertel ziehen, alte Orte besuchen, alte Geschichten hören und dabei seine neue Musik im Kopf haben, die so frisch und kühn klingt, als müsste für sie erst noch eine Konzertreihe ins Leben gerufen werden, um sie aufzuführen.

»Da habe ich gewohnt, das sah nicht immer so schick aus.« Wir stehen vor dem Brüsseler Platz 6, einem herausgeputzten Altbau. Hier zu wohnen war paradiesisch — und am Ende ein Kampf, erzählt von Senger. Die Eigentümer wechselten, und jeder hatte das Interesse, möglichst viel aus dem kaputten Altbau herauszuholen, schließlich wurde das Haus luxussaniert, Anfang der 90er, nach über zehn Jahren, zog von Senger aus. Im Keller hatte er sein kleines Studio. Anfangs durften sie da zweimal die Woche spielen, immer wenn der Nachbar auf Arbeit war. Später, als er schon regelmäßig mit Liebe­zeit spielte, lief das so: Um 1 Uhr nachts kamen sie aus Weilerswist zurück, ausgelaugt und aufgepeitscht von stundenlangen Sessions im Can-Studio. Am Brüsseler Platz dann das Radio angemacht: BFBS gesucht, John Peel gehört, der legendäre Radio-DJ, der die heißeste Musik zur Zeit spielte. Später stand ein Schwarz-Weiß-Fernseher in der Bude, das Nachtprogramm vom WDR lief, Live-Mitschnitte aus den Sartory-Sälen. »Wenn es interessant klang, sind wir direkt vom Fernseher rüber zur Friesenstraße gelaufen, wir kannten die Türsteher, die haben uns reingelassen.« Hinterher in irgendeiner Kneipe im Friesenviertel oder am Rudolfplatz eine Session gespielt, dann am Ring, in der damaligen Künstlerkneipe La Strada, dem Morgen entgegen gedämmert.

Dass Köln ein großes Dorf war, glaubt man nach von Sengers Erzählungen sofort: Fast alles spielte sich in der Innenstadt, zwischen Gürzenich und St.Michael am Brüsseler Platz, ab. Wer im Luxor spielte, zog fast schon vor die Tore der Stadt. Man lief sich über den Weg, vor allem im Café Fleur, Can-Bassist Holger Czukay wohnte gegenüber, hielt Hof, Liebezeit schaute vorbei, Conny Plank, der Radio-DJ Alan Bangs, auch ein junger Schauspieler, an ­dessen musikalische Karriere damals keiner so recht glauben mochte: Herbert Grönemeyer. Irgendwann macht von Senger den Schnitt und steigt richtig ein, mit Liebezeit, Zerlett, dem jamaikanischen Bassisten Rosko Gee spielt er 1980 in der Phantom Band, Holger Czukay sitzt am Mischpult. Die Gruppe gilt bald als Nachfolgeband von Can. »Es war die Stunde Null für mich«, sagt von Senger, »Liebezeit hat uns getriezt, wollte uns alle Musik aus dem Kopf treiben, wir sollten unsere Instrumente neu spielen lernen«: nicht-linear, nicht-europäisch, nicht-ausschweifend, stattdessen an der ­Einheit von Klang und Rhythmus arbeitend. Noch ein Kampf. Einigen galt die Phantom Band als epigonal, auch die andere Band, der von Senger mit seinem kürzelhaften, prägnanten Gitarrenspiel den Stempel aufdrückte: Dunkelziffer um den 2014 verstorbenen Schlagzeuger Stefan Krachten. Heute stellt es sich anders dar, wir hören ihre Alben als eigensinnige Kommentare zum Jazz-Funk und Post-Punk jener Jahre: sperrig, aber nie vordergründig provokativ, kühle, konzentrierte Musik, durch die der Wahnsinn blitzt. »Am Tag als Bob Marley starb, haben wir sechs Stunden im Crash gespielt, einer riesigen Disco unter dem Rudolfplatz«, sagt von Senger.

Die Party ging noch länger, die ganzen 80er Jahre, aber dann war die Energie weg, waren die Orte weg, das Publikum, die Musiker. Wo ist von Senger geblieben? In der Vulkaneifel, sagt er. 1995, nach zwei Jahren am Chlodwigplatz, folgte der Umzug, der natürlich einer Zäsur gleichkam. Er arbeitete wieder in einer Druckerei, im Hinterkopf noch die Frage, wer ihn anrufen würde. Niemand, sagt er. Fast niemand. Nach einem Jahr meldete sich Damo Suzuki, der japanische Zeremonienmeister und Sänger von Can. In Suzukis Band spielt er noch einige Jahre, tourt durch Japan, lässt sich feiern, dort wird der Kraut-Underground bestaunt.

Jetzt sitzen wir im Café Fleur. Junges Publikum, keine Boheme, aus dem Fenster sehen wir auf »Hört Hört«, das Instrumentengeschäft der alten Szene. Von Senger ist längst wieder zurück. Hat noch mit dem 2017 verstorbenen Liebezeit gearbeitet, aktuell mit Michael Rother, hat sich aber auch von Jüngeren einladen lassen: von den Kölner Produzenten Marcus Worgull und Danilo Plessow für ihr »Vermont«-Projekt oder vom Tausendsassa Jan Schulte für »Montezumas Rache«. Er sieht das alles gelassen. Aber dass ihn kürzlich der Control Club aus Bukarest eingeladen hat, erstaunt ihn dann doch. »Das war ja ein richtiger Star-Auftritt«, sagt er immer noch verwundert.