Ich-AG am Rande des Nervenzusammenbruchs: Kris Hitchen

»Der Kampf um Worte ist wichtig«

Ein Gespräch mit Ken Loach über seinen neuen Film Sorry, We Missed You, die Gig-Ökonomie und die Sprache des Neoliberalismus

2020Was war der Anstoß einen Film über die so genannte Gig-Ökonomie zu machen, über einen selbstständigen Paketzusteller und seine Frau, die bei einem Pflegedienst arbeitet? Nun, diese Arbeitsbedingungen machen einen wirklich ärgerlich, weil sie so ungerecht sind. Die Art und Weise, wie sich die Arbeit verändert hat, ist ungerecht. Früher hatten die Menschen einen Job, der sicher war, mit Kündigungsschutz, mit Gehältern, die ausreichten, um eine Familie zu ernähren. Das hat sich entscheidend verändert. Arbeit ist prekär geworden. Es gibt keine Garantie mehr, ob man morgen noch einen Job hat oder nicht. Die Gehälter sind gesunken, und man weiß nicht mehr, ob man in der nächsten Woche noch dasselbe verdient. Menschen können ihre Leben nicht mehr planen.

Verglichen mit ihrem letzten Film »I, Daniel Blake« wird der Ärger allerdings sehr viel stärker unterdrückt. Das liegt vielleicht daran, dass wir die Geschichte um eine Familie herum zentriert haben. Es geht um eine Familie, die in Not gerät. Sie wehren sich, sie tun ihr Bestes. Doch die Situation, in die sie hineingeraten sind, bedeutet, dass sie abends erschöpft nach Hause kommen. Ricky wird zu einem Gefangenen in seinem Lieferwagen. Wir wollten eine Geschichte erzählen, die vielen Menschen zustößt. Es ist keine extreme Geschichte. Was wir jetzt beschreiben, passiert Millionen von Familien! Millionen von Familien! Darüber kann man wirklich ärgerlich werden.

Interessant ist auch die Art und Weise, wie der Auftraggeber der Hauptfigur Ricky spricht, diese modernen Vokabeln, die jeden Sachverhalt als positiv verkaufen. Wie ist ihr langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty vorgegangen? Ja, die Sprache ist sehr wichtig. Paul hat diese Art, sich auszudrücken, in der Werbung für diese Jobs gefunden: »Werden Sie ein Unternehmer!«, »Werden Sie der Meister Ihres Schicksals«, »Sie sind ein Krieger der Straße« — das ist eine Sprache, die die Gewinner von den Verlierern unterscheiden soll. Der Kampf um Worte ist sehr wichtig. Sollen sie doch einfach die Wahrheit sagen und nicht alles hinter diesen Euphemismen verstecken. Die Sprache behauptet das Gegenteil von dem, was wirklich passiert.

Es gibt im Film einen sehr zärtlichen Moment, wenn Rickys Frau, die sich aufopfernd um andere Leute kümmert, von einer Klientin gefragt wird, ob sie ihr das Haar bürsten dürfe. Ist das übertragen als Trost auch für den Zuschauer gemeint? So haben wir das nicht gesehen. Es ist das, was wir vorgefunden haben. Die Gesellschaft hat zwei Gesichter. Diese Szene zeigt auch, wie wir sind: als Nachbarn, als mitfühlende Menschen. Das ist ja eigentlich das Normale, dass ein Nachbar, wenn es ihm schlecht geht, Hilfe bekommt. Wir haben festgestellt, dass die Pflegekräfte — übrigens nicht alles Frauen, es gibt auch einige Männer darunter — mitfühlende, generöse Menschen sind, die mehr Arbeitszeit investieren, als entlohnt wird. Es wird ihnen zwanzig Minuten erlaubt, um einen alten Menschen aus dem Bett zu hieven, ihm Frühstück zu machen, ihn zu waschen und ihm Medizin zu geben. Unmöglich! Und so müssen sie häufig einfach länger arbeiten. Bezahlt werden aber nur zwanzig Minuten. Man kann nicht eine alte Frau halbangezogen sitzenlassen. Das ist eine schwierige Situation. Der Arbeitgeber beutet die Pflegekräfte aus, wohl wissend, dass sie ihre Patienten niemals im Stich lassen würden.

Sie gewinnen Ihren Schauspielern eindrucksvolle naturalistische Darstellungen ab. Wie finden Sie sie? Neben dem Drehbuch ist das Wichtigste, es durch die Darsteller zum Leben zu erwecken. Die Suche nach den richtigen Darstellern nimmt immer viel Zeit in Anspruch. Kris Hitchen, der Ricky spielt, hat mal als Schauspieler begonnen, aber vor allem als Klempner gearbeitet. Und er besaß einen Lieferwagen. Debbie Honeywood, die seine Frau spielt, arbeitet als Assistenzlehrerin mit Kindern, die Lernschwierigkeiten haben, sie hatte vorher ein paar Schauspielerfahrungen. Die beiden Kinder kommen aus Schulen vor Ort. Sie zu finden war ein langer Prozess.

Sie sind über 80 Jahre alt und machen schon seit über 50 Jahren Filme. Wo nehmen Sie diese Energie her? Vielen Dank, dass Sie mich an mein Alter erinnern (lacht). Ich hätte sonst vergessen, dass ich schon 83 bin. Ich sage Ihnen, wo meine Energie herkommt: Jeden Morgen wache ich auf und höre im Radio die BBC, und die Berichterstattung zum Vorteil des rechten Flügels ist so deutlich, dass man sich schon bei der ersten Tasse Tee zu ärgern beginnt. Das treibt mich zur Arbeit an. Nein, ernsthaft: Es gibt so viele Geschichten zu erzählen, und ich habe das Glück, mit einem wundervollen Autor zusammenzuarbeiten: Paul Laverty. Wir machen das jetzt schon seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und seine Energie trägt viel dazu bei.

Ken Loach

Der Brite Ken Loach (*1936) ist einer der wichtigsten Vertreter des filmischen Sozialrealismus der letzten fünfzig Jahre. Er begann bei der BBC als Regisseur, bevor er 1967 mit »Poor Cow« seinen ersten Kinofilm realisieren konnte. Weitere wichtige Werke sind z.B. »Kes« (1969), »Land and Freedom« (1995) und »The Wind That Shakes the Barley« (2006). Loach ist zweifacher Gewinner der Goldenen Palme und von unzähligen anderen internationalen Filmpreisen.