Wider das Vergessen: Ali Toy erinnert an seinen Freund Enver Şimşek

»Spuren — Die Opfer des NSU«

Aysun Bademsoy-Petzold gibt den Hinter­bliebenen der NSU-Opfer Raum und Zeit

11. Juli 2018: Urteilsverkündung im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München. Danach macht sich die Enttäuschung und Wut der Eltern von Halit Yozgat Luft, dem letzten der neun Opfer der Rechtsterroristen. Die Dokumentarfilmerin Aysun Bademsoy-Petzold fragt an, ob sie für ihren Film »Spuren — Die Opfer des NSU« bereit wären, sich filmen zu lassen. Im Antwortbrief der Töchter steht, die Eltern seien wütend und enttäuscht und wollten mit niemand mehr reden.

Bademsoy-Petzold sucht Freude und Angehörige von drei anderen NSU-Opfern auf und zeigt deren Umgang mit den Morden und dem Verlust. Um Enver Şimşek zu gedenken, kontrolliert Ali Toy, ehemaliger Kollege des in Nürnberg ermordeten Blumenhändlers, jeden Samstag, ob das Foto noch am Tatort hängt und die Blumen da sind. Nuss- und Obstbäume hat er gepflanzt im nahegelegenen Wald: »Diese Bäume mögen Enver Şimşeks Seele Schatten spenden.« Dann erzählt er von deutschen Kunden, die sich an Şimşek erinnern, die ihn mochten und sich schämen, dass er von deutschen Neonazis ermordet wurde.

Bademoy-Petzold zeigt in ihrem Film ein Panorama der Trauer und Enttäuschung. Das Versagen der deutschen Behörden bei den Ermittlungen, die Beschuldigungen der Familien der Opfer haben tiefe Spuren hinterlassen. »Man bleibt halb zurück«, sagt Elif Kubaşık, Witwe von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 in Dortmund ermordet wurde. Ein paar wenige Fahrten von Tatort zu Tatort, von Hinterbliebenen zu Hinterbliebenen, einige wenige Kommentare aus dem Off, gesprochen von Bademsoy-Petzold — ansonsten konzentriert sich der ruhige Film ganz auf die Begegnung mit den Familien und Freunden von Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü und Mehmet Kubaşık, zeigt deren unterschiedlichen Umgang mit den Verlusten. In der Straße, in der sein Bruder ermordet wurde, steht Osman Taşköprü und zeigt ein Foto Süleymans auf dem Hollywood Walk of Fame kniend vor dem Stern von Sylvester Stallone. Heute erinnert ein Stern mit dem Namen des Lebensmittelhändlers an dessen Ermordung. Mehmet Kubaşıks Witwe Adile zeigt hinter dem Haus in der Türkei, das sie mit ihrem Mann seit den 70er Jahren gebaut hat, zwei Bäume — einen für ihn, einen für sie.

Der NSU und das Netzwerk von Neonazis, das dessen abtauchen möglich gemacht hat, wird nur am Rande sichtbar, im Zentrum steht das Weiterleben nach den Morden. Die Verletzungen sind deutlich sichtbar, sie geballt im Film mitanzusehen, ist bisweilen hart. »Spuren« ist kein leichter Film, aber ein sehenswerter.

D 2019, Aysun Bademsoy-Petzold, 82 Min.