Blickt nach vorne und doch zurück: Regina Porter

Familienroman, geschichtet

»Die Reisenden« von Regina Porter klingt wie aus dem wahren Leben: subjektiv und verworren

»So viele Leben, so viele Ichs in einem einzigen Körper«, resümiert Agnes Christie, die weibliche Protagonistin in Regina Porters Roman »Die Reisenden«, im Jahr 2010 ihr Leben, schwer krank und umgeben von ihrer Familie. Damit fasst Agnes auch die Struktur des Debüt-Romans der bislang vor allem als Theaterautorin bekannten Porter zusammen: Über sechs Jahrzehnte hinweg von den 50er Jahren bis 2010 entfaltet sie das Panorama zweier Familien, einer weißen und einer afroamerikanischen, deren Geschichten sich immer wieder überschneiden, nur um alsbald erneut auseinander zu driften. Jedes Kapitel setzt dabei neu an, erzählt von einem anderen Charakter, entwirft eine neue Biografie aus dem Kosmos von Familie Clark oder des zweiten Protagonisten James Samuel Vincent, des »alten weißen Mannes«. Nebenfiguren, Halbbrüder und Liebschaften bekommen viel Raum, deren Rolle womöglich erst hundert Seiten später deutlich wird, wenn ihre Verbindung zu den Familien offenbar wird. Es finden sich auch Fotos, die dem Roman den Charakter eines Familienalbums verleihen, bei dem die Autorin die Rolle einnimmt, als einzige alle Personen und ihre Beziehungen untereinander zu kennen.

Dabei erzählt das Buch anhand der Familien Clark und Vincent von den großen Themen: von offenem und verdecktem Rassismus, von der Bürgerrechtsbewegung und der Wahl Obamas, von Gewalt und Traumata, Klassengrenzen und Fluchtbewegungen, Homosexualität und Familiengeheimnissen. »Die Reisenden« springt geografisch durch die Welt, von den Südstaaten nach New York, nach Berlin und Vietnam, und rast auch vor und zurück in der Zeit, erzählt keine stringente Familiensaga, sondern schichtet Plot auf Plot, Perspektive auf Perspektive, die sich erst in der Gesamtschau zusammenfügen. Reisende sind alle Personen im Buch, auf der Suche nach Freiheit und Selbstentfaltung, im persönlichen wie im politischen Sinne. In einem Interview hat Porter erklärt, das zentrale Motiv der Reise seien jedoch Traumata, und wie diese von Generation zu Generation weitergereicht werden: »Die Eltern haben vieles nicht richtig aufgearbeitet und die Kindern übernehmen das, ohne wirklich davon zu wissen in ihre eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen.« Die Familienvergangenheit reist mit und bestimmt das Handeln in der Gegenwart. So blickt »Die Reisenden« gleichzeitig zurück und nach vorne, zeigt Verständnis für den Impuls, Verletzungen zu verdrängen, und pocht gleichzeitig auf die Aufarbeitung der Vergangenheit.

Regina Porter: »Die Reisenden«, S. Fischer, 380 S., 22 Euro