Festivalleiter Ira Givol

Lust am Mitdenken

Das »Kölner Fest für Alte Musik« (21.–29.3.) wartet mit vielen neuen Ideen und ungewöhnlichen Konzertfor­ma­ten auf, um dem Publikum die wundersame Welt der Renaissance- und Barockmusik nahezubringen. Im Interview spricht Festivalleiter Ira Givol darüber, wie vertrackt die Rhythmen des 16. Jahr­hunderts sind, wie man Klassik aus dem Kopf bekommt und warum er den Begriff »Alte Musik« gar nicht mag

Herr Givol, wenn man fragt, was uns eigentlich Alte Musik heute noch zu sagen hat, ist das natürlich ein bisschen abwertend, weil die Alte Musik unter die Gegenwart subsumiert wird.

Man kann Musik eben nicht evolutionär verstehen: Musik wird nicht besser im Laufe der Zeit, sie entwickelt sich nicht höher, sie wird nur anders. Viele Leute glauben, Alte Musik sei nur die erste Lage von dem, was wir heute an Musik haben, historisch und ästhetisch ist diese Sichtweise völlig falsch. Es gibt Musik aus dem 16 Jahrhundert, die rhythmisch so komplex ist, dass selbst Interpreten von zeitgenössischer Musik Schwierigkeiten haben, sie aufzuführen.

Warum ist das verloren gegangen?

Das kann man so nicht sagen. Komponisten haben frühere Komponisten immer geschätzt, ihre Partituren gelesen, ihre Werke gespielt. Aber das Publikum hatte einfach mehr Interesse an zeitgenössischer Musik, und so haben auch die Komponisten ihre Arbeit verstanden: Für Mozart war es doch undenkbar, dass seine Musik noch 250 Jahre später gespielt würde! Er hat für seine Zeit und sein Publikum geschrieben. So war es auch bei den früheren Komponisten. Beethoven ist doch nicht als Klassiker geboren! Jetzt ist es so, dass sich der klassische Musikbetrieb ziemlich erschöpft hat: Wir kennen alles von Beethoven, von Mozart, von ihren Zeitgenossen, es gibt kaum noch Neu- oder Wiederentdeckungen. Bei Alter Musik verhält es sich anders. Ständig werden neue Opern, neue Kantaten gefunden, unbekannte Zeitgenossen von Bach entdeckt, und auch von Bach selbst sind große Teile seines Werks unbekannt, verschollen. Daher rührt das zunehmende Interesse an Alter Musik — sie steckt noch voller Überraschungen.

Gibt es im Alte-Musik-Betrieb nicht auch einen Hang, möglichst entlegene Kompositionen ausfindig zu machen, ungeachtet der Qualität?

Ja, auch das gibt es. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass immer noch recht wenig bekannt ist. Vivaldi hat mehr als dreißig Opern geschrieben! Regelmäßig aufgeführt werden aber bloß etwa zehn davon. Wir haben da noch einiges nachzuholen.

Aber erzeugt das bei heutigen Hörern nicht einen starken exotisierenden Effekt?

Ich würde sagen, es ist ein Problem der Bezeichnung »Alte Musik«. Ja, ich weiß, der Begriff ist eingeführt und hat in Köln eine lange Tradition. Aber klingt »Alte Musik« nicht auch völlig verstaubt? Wir haben uns deshalb für das Festivalprogramm für einen englischen Titel entschieden: »Early Music«. Wir wollen für diese Epoche sensibilisieren, an ihr ist nichts »exotisch«, der Begriff »Alte Musik« führt da mittlerweile in die Irre.

Wie viel Wissen über Renaissance und Barock und die weltanschaulichen Hintergründe ist eigentlich nötig, um »Early Music« zu verstehen?

Darüber kann man sich lange streiten. Einerseits schadet es nie, mit viel Vorwissen an diese Musik heranzutreten. Andererseits sollte man sich aber spontan begeistern lassen können. Das Problem liegt woanders: Es steckt in dieser emotionalen Trennung des Publikums von der Bühne und den Musikern — das ist das Konzertformat des 19. Jahrhunderts, wie es heute noch gepflegt wird. Aber dieses Konzertformat passt nicht zur Alten Musik. Wenn diese Musik anders aufgeführt würde, wäre es gar nicht so wichtig, dass alle im Publikum über musikalische Rhetorik oder die Biografie Bachs Bescheid wüssten. Denn es wäre für die Leute viel leichter, sich für diese Musik zu öffnen und sich als Teil einer Aufführung zu begreifen. Das wollen wir mit unserem Festival ändern.

Was sind denn andere Konzertformate?

Wir werden das auf verschiedenen Ebenen versuchen: etwa mit direkter Beteiligung. Das Publikum wird die Stücke aus einem Menü selbst auswählen, weder die Musiker noch die Zuhörer wissen vorher, was gespielt werden wird. Beim Eröffnungskonzert werden wir drei Barock-Kompositionen hören — und vier aktuelle Stücke, die eigens für diesen Abend komponiert wurden. Es wird aber kein Programmheft geben. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was er gehört hat und zu welcher Epoche das jeweilige Stück gehört. Das ist nicht einfach, denn die zeitgenössischen Stücke setzen sich mit Barock-Musik auseinander, und die Barock-Stücke, die wir ausgesucht haben, sind voller Ecken und Kanten. Wir wollen, dass die Leute nicht nur zuhören, sondern auch mitdenken. Für andere Konzerte bieten wir eine Einleitung an, aber auch die Möglichkeit, mit den Musikern ins Gespräch zu kommen.

Sogenannte Ernste Musik wird meist mit komponierter Musik gleichgesetzt. Welche Rolle spielt aber die Improvisation in der »Early Music«?

Improvisation ist die Basis aller Barock-Konzerte. Fast alle Barock-Stücke basieren auf dem basso continuo, es ist ein bisschen wie im Jazz, man kriegt nur eine Linie mit den Akkorden vorgegeben, das ist gewissermaßen die Formel des Stücks, aber die Ausgestaltung, die Entfaltung des Stücks wird dem Interpreten überlassen. Wir gehen im Festival noch weiter und werden auch eine vollständige Improvisation bringen, wir haben dafür den Piano- und Cembalo-Virtuosen Markus Märkl gewonnen: Er wird eine eigene Improvisation einem historischen Barock-Stück gegenüberstellen.

Ist dieses Moment der Improvisation auch der Grund für die zunehmende Begeisterung für Barockmusik?

Im Gegensatz zur Klassik wirkt sie auf viele Menschen beweglicher, unkonventioneller. Auf jeden Fall! Diese Musik ist ein Spielplatz, auf dem man sich selber ausdrücken soll, sie lädt dazu ausdrücklich ein. Wir haben — auch vermittelt über die sogenannte Klassik — im Kopf, dass der Musiker Diener der Komposition ist und ganz hinter der Partitur verschwinden soll. Aber in der Musik der Renaissance und des Barocks gilt das Gegenteil: Der Musiker muss etwas von sich erzählen, etwas von sich mitbringen. Das ist es, was »rhetorische Spielweise« bedeutet.

Wie spielt man denn »rhetorisch«?

Viele musikalische Stilmittel kommen aus der Redekunst, etwa das Stilmttel der Wiederholung, um etwas zu betonen oder auf eine Variante hinzuweisen. Für jedes sprachliche Stilmittel gibt es ein musikalisches Äquivalent.

Von diesem rhetorischen Ansatz ausgehend: Wie kann man heute mit den Kenntnissen und Bezügen zur Alten Musik komponieren?

Die Sprache ist heute natürlich eine andere, aber die damaligen Techniken sind weiterhin aktuell. Nehmen wir Arnold Schönberg. Dessen Zwölftonmusik gilt als Inbegriff der Moderne. Aber Schönberg hat kontrapunktische Techniken aus dem Barock verwendet!

Zum Schluss bitte noch ein Tipp von Ihnen für die Leserinnen und Leser: Was empfehlen Sie als Festivalleiter zum Einstieg in den Kosmos der Alten Musik, pardon, der »Early Music«?

Sie fragen einen Cellisten! Deswegen ist die Antwort schnell und offensichtlich: die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach.