Innehalten im Schrecken: Hildur Guðnadóttir, Foto: Nathan Ishar

Die Unwahrscheinlichkeit Leben

Hildur Guðnadóttir performte ihren Emmy-gekrönten Soundtrack »Chernobyl« in einem ehemaligen Berliner Krematorium.

Bereits der Gang hinab in die Betonhalle des Silent Greens in Berlin-Wedding fühlt sich wie ein Teil der Livepräsentation von Hildur Guðnadóttir’s »Chernobyl«-Soundtrack an. Das gedämmte Licht, die stumpfe Akustik, die alle Worte sofort mit totem Staub belegt, und die in der Luft hängenden Nebelfäden: Das alles schüchtert ein, lässt die ZuschauerInnen ankommen in einer Aura jenseits ihres kontrollierbaren Alltags. Denn das, was hier an diesem Abend, der Deutschlandpremiere, in Klang geformt wird, das, was Hildur Guðnadóttir, gemeinsam mit Chris Watson, für ihr mit einem Emmy honoriertes Werk in 13 Musikstücke eingewoben hat, ist soviel abgründiger, als es das Wort »Soundtrack« zu fassen vermag.

Guðnadóttir und Watson haben sich dem Unterfangen gestellt, einen jener Momente der Menschheitsgeschichte zu vertonen, in dem sich ein Tor zu einer anderen Dimension geöffnet hat. Man muss nicht »Hölle« dazu sagen, aber den damaligen Ereignissen in der Ukraine haftet immer noch eine Andersweltlichkeit an, weil die Angst, die man damals selbst aus der Distanz und heute als Rezipient der filmischen und musikalischen Aufarbeitung spürt, seltsam apathisch zu einem spricht. So sehr man sich sonst der Reflektion über die eigene Endlichkeit verwehrt, nach Chernobyl steht ein solches Verhalten gar nicht mehr zur Disposition, vielmehr ist Leben nicht mehr nur endlich — es ist zu einer Unwahrscheinlichkeit degradiert.

Guðnadóttir und Watson ist es mit dem Soundtrack gelungen, die menschliche Hilflosigkeit im Angesicht einer Katastrophe tonal einzufangen — und das in ihrem ganzen Spektrum. Sie bringen gleichermaßen die Eindrücke jener Menschen ein, die sprichwörtlich in den aufgebrochenen Abgrund des Reaktors hinabgeschaut haben, die von der Explosion erschüttert und taub gemacht waren, die andere Dimension mit allen ihren Sinnen erfahren mussten, aber sie finden auch die passenden Töne für all jene — die Mehrzahl der Menschen von Chernobyl —, denen der Umfang der Tragödie erst im Nachgang in seiner ganzen Drastik bewusst werden sollte, für die sich das Mosaik des Schreckens erst über die Wochen, Monate und Jahre zusammensetze. Chernobyl, das lehren uns Guðnadóttir und Watson mit ihrer Musik, ist eine Synfonie des Schreckens in unendlich vielen Akten.

Die große Herausforderung sei es gewesen, die Strahlung, die sich filmisch nicht einfangen lässt, in Klang zu übersetzen, erzählt Hildur Guðnadóttir dem Wire für dessen Januarausgabe in einem ihrer seltenen Interviews. Sie habe dabei stets die Verantwortung gespürt, sich nicht zu überdramatischen Gesten hinreißen zu lassen, sondern den Menschen von Chernobyl gerecht zu werden, in dem sie ihre Kompositionen aus den Sounds vor Ort entwickelt habe. Hiefür sind Watson und Guðnadóttir zu den Dreharbeiten nach Litauen gereist, um im als Kulisse dienenden lokalen Kraftwerk Unmengen an ambiosonischen Field Recordings aufzunehmen. Die Auswahl der passenden Sequenzen machten sie sich im Anschluss nicht leicht, mehr als ein halbes Jahr lebten und arbeiteten sie mit dem Material, bis dieses zu ihnen regelrecht sprach. Das Einspielen im Studio ging danach relativ schnell, oft wurde der erste Take genommen, einfach da er die Rauhheit noch verkörperte, die ihnen vorschwebte.

Die 37-jährige Guðnadóttir, die seit einigen Jahren in Berlin lebt und auch singt und Cello spielt, ist keineswegs eine Newcomerin, auch wenn ihr Name vielen erst durch »Chernobyl« und die Mitarbeit am Soundtrack zu »Joker«, für den sie jetzt einen Oscar gewann, begegnete. In ihrer Diskografie finden sich Zusammenarbeiten mit Sun O))), Dirk Dresselhaus (Schneider TM), Robert Aiki Aubrey Love und ihrem Isländischen Komponistenkollegen Jóhann  Jóhannsson, der leider vor zwei Jahren verstorben ist, zudem arbeitete sie für Throbbing Gristle und Animal Collective als Arrangeurin.

Die Performance orientiert sich an diesem Abend im Wedding größtenteils an der preisgekrönten Vorlage, es sind Versionen der Stücke, für die die beiden gemeinsam mit Sam Slater die Motive in Raum und Zeit ausdehnen, ergänzt um weitere Field Recordings aus dem Archiv. Die erst jüngst eröffnete Betonhalle des Silent Greens, ein fensterloser Raum, der ursprünglich als Krematorium diente, versprüht in seiner leblosen Grauheit die passend morbide Grundstimmung.

Das sei auch Vorraussetzung gewesen, betont Guðnadóttir. »Chernobyl«, das ursprünglich von Unsound, Dark Mofo, Barbican und Rewire in Auftrag gegeben wurde, funktioniere nur ortsgebunden und lasse sich nicht überall reproduzieren. Denn anders als bei ihrer Soundtrackarbeit für »Joker«, für die sie auf Wunsch des Regisseurs Todd Phillips mit dem Cello arbeitete und mit ihrer Musik die Rahmenbedingungen für die Inszenierung der Szenen und Genese der Protagonisten setzte — Joaquin Phoenix tanzt nach der Musik von Guðnadóttir —, diktiert bei »Chernobyl« stets der Ort die Musik.

Die Inszenierung im Silent Green, die Teil des des diesjährigen Club Transmediale Festivals gewesen ist, folgt diesem Prozess. Bereits am Eingang war man gewarnt worden, dass mit viel Nebel und Strobolicht zu rechnen sei. Es sollte kein leere Ankündigung bleiben, auf der in der Mitte des Raums angesiedelten Bühne erkannte man die Protagonisten nur schemenhaft. In den wenigen klaren Momenten sorgte die zwischen hektischen Neongeflacker und mollfarbigen Flächen osszilierende Lichtgestaltung von Theresa Baumgartner und die schmerz­­voll-sterile Raumgestaltung von Francesco Donadello für ein dem Nachbeben von »Chernobyl« angemessenes permanentes Unwohlsein.

Als die ZuschauerInnen nach der einstündigen Performance die Halle verlassen, mehr Zombies als Menschen in ihrer erschütterten Sprachlosigkeit, scheinen sie alle dem Tod ein Stück näher gerückt.