»Es ist wie ein Tanz«: Julia Effertz choreografiert intime Szenen, Foto: Teresa Marenzi

Über Sex reden

Sexismus in der Theaterarbeit wird mittlerweile offen diskutiert — auch dank »Intimitätskoordinatorin« Julia Effertz

Julia Effertz hat es sich bequem gemacht. In ihrer Berliner Wohnung nippt sie am Wasserglas, am Telefon: mal wieder eine Journalistin. Die Stadtrevue ist in diesen Tagen nicht die einzige, die die erste Intimitätskoordinatorin in Deutschland zum Interview bittet. Die MeToo-Debatte, der Weinstein-Prozess — all das hat dazu geführt, dass man sich am Filmset und im Theater nun endlich mit Sexismus, Gewalt und Intimität auseinandersetzt. Doch es gibt noch ein anderes Problem.

Frau Effertz, Ihr Job ist es, dass sich alle wohl fühlen. Sind Sie so etwas wie eine Happiness Managerin am Filmset und im Theater?

In gewisser Weise schon. Ich arbeite aber nicht psychologisch, sondern kreativ-choreografisch, und zwar in der Umsetzung intimer Szenen — also Szenen, in denen die Darsteller auf der Bühne körperlich und emotional besonders exponiert sind. »Happiness« passt recht gut, weil ich Darstellern dabei helfe, Intimität schauspielerisch darzustellen und dabei ihren privaten Körper zu schützen.

Sex- und Kampf-Szenen ähneln sich in der Arbeit, sagt man in der Bühnenkunst häufig. Sind Sie da anderer Meinung?

Das stimmt tatsächlich. Inhaltlich erzählt man natürlich unterschiedliche Dinge, aber aus professioneller Sicht ist die Herangehensweise ähnlich. Sex und Kampf sind körperliche Szenen mit Choreografien, das ist wie ein Tanz. Da muss jeder Handgriff, jede Bewegung sitzen. Die Befürchtung, dass dadurch eine eigentlich leidenschaftliche Szene mechanisch wirken könnte, ist unbegründet. Im Gegenteil: exzellentes Schauspiel braucht Schauspieler, die sich sicher fühlen und wissen, dass nichts unerwartetes passiert und keine Hand plötzlich an eine Körperstelle greift, die im Vorfeld nicht ver­einbart war. Erst dann können sie sich ihrer Rolle ganz hingeben und die Szene in ihrer narrativen Tiefe erzählen.

Wie lief die Vorbereitung auf intime Szenen bislang ab?

In Drehbüchern oder Theaterstücken stehen oft nur sporadische Anweisungen. Zum Beispiel: »Sie küssen sich, ziehen sich aus, schlafen miteinander.« Aber was wird zwischen den Figuren erzählt und wie soll es aussehen? In der Regel hat die Regie schon Bilder dazu im Kopf, aber bislang fiel es allen Beteiligten schwer, über diese Szenen offen zu sprechen und sie vor allem choreografisch zu erarbeiten. In der Probe waren Darstellende dann häufig auf sich allein gestellt und verhandelten die Umsetzung unter sich. Nach dem Motto: »Macht ihr mal, ihr wisst ja, wie man küsst.« Oder man schickte Schauspieler ins Café, um dort unter vier Augen die Sex-Szene zu besprechen.

Klingt nach einer Menge Improvisation — und Verletzungen, die quasi vorprogrammiert sind. Was ist Ihre Lösung?

Ich spreche im Vorfeld der Proben mit der Regie über ihre Vorstellungen für die Szene, dann treffe ich mich mit den Schauspielern. Ich kläre mit ihnen körperliche Grenzen und Einschränkungen ab und leite die Berührungsvereinbarung, das was wir »agreeing touch« nennen. Es geht darum, den Körper des Gegenübers als Arbeitsfeld »abzustecken« und selbst Einwilligung geben zu können, wo man berührt werden möchte und wo nicht: »Darf ich dich auf die Stirn küssen?« oder »Ist es für dich okay, wenn ich dich von hinten umarme?« Es ist ganz wichtig, gemeinsam klare Grenzen und auch klare Möglichkeiten zu formulieren. Erst dann kann die Arbeit an der Choreografie beginnen.

In den USA stellen Produktionsfirmen wie HBO und Netflix mittlerweile an jedem Set Intimitätskoordinatoren ein. Kann das auch im Theater funktionieren?

Absolut. Am Broadway und im Londoner West End wird die Arbeit mit »Intimacy Directors« schon praktiziert. Die Vorbereitungsarbeit und das Handwerk sind gleich, allein das Setting ändert sich — und die Sicherheitsprotokolle während des laufenden Spielbetriebs. Bei Theaterstücken oder Opernproduktionen mit Nacktheit und intimen Szenen sollten Bühne und Seitenflügel geschlossen sein, sodass nur die für den Szenenablauf absolut notwendigen Bühnentechniker und Kollegen das Geschehen mitverfolgen können. Im Film nennen wir das »geschlossenes Set«. Und ganz wichtig: Analog zum abendlichen »Fight Call« für Kampfszenen findet vor jeder Vorstellung ein »Intimacy Call« statt, bei dem die Schauspieler die Berührungsvereinbarung noch einmal durchgehen. Das ist absolut notwendig, denn die körperliche Befindlichkeit ist nicht immer gleich und Berührungen können unbewusst oder bewusst »verschleifen«.

Was meinen Sie damit?

Gerade aus dem Theater kennen wir viele Geschichten darüber, dass mit jeder Vorstellung die Bewegungen ausufernder, intensiver wurden, die Rolle immer weiter ausgelebt wurde. Das ist eine bittere Realität, noch immer — und es wäre leicht zu vermeiden durch transparente Kommunikation und klare Richt­linien.

Und es gibt eine große Scham über Intimität zu sprechen.

Ja, und da fängt unsere Arbeit an. Wir tun uns mitunter schon im Privaten schwer damit. Hinzu kommt: Schauspielern fällt es erfahrungsgemäß schwer, Nein zu sagen und Grenzen zu setzen, denn sie befinden sich durch ihren Beruf in einer kontinuierlichen Bewerbungssituation, sind davon abhängig, gemocht und für die nächste Rolle besetzt zu werden. Zur Scham, über intime Szenen zu sprechen, kommt die Angst, als »schwierig« zu gelten, wenn man Grenzen kommuniziert. Wir wollen dabei helfen, diese Angst zu überwinden.