Ins Offene gezielt

Seine Bilder wirken wie Strandgut, arrangiert mit größter Genauigkeit: Ein Porträt des Kölner Malers Heiner Binding

An zwei Stellen beobachtet die Kamera den Künstler selbst: bei der Arbeit, allerdings ohne Pinsel. Heiner Binding baut an einer Wand seines Ateliers eine seiner Bildinstallationen zusammen. Nacheinander holt er die Einzelteile aus dem Lager, farbig bemalte Leinwände, Holzteile, Latten, gemusterte Stoffe, hängt, rückt zurecht, tackert, klopft und man hält kurz die Luft an, wenn er dabei mal eben ein Bild als Hammer einsetzt, eine Szene, die man auch bei einem ganz normalen Atelierbesuch erleben kann.

Dann hängt das Werk — ein fragiles, hybrides Bild-Skulptur-Objekt, das auf den ersten Blick wie zusammengeschustert wirkt, auf den zweiten präzise arrangierte Bezüge zwischen Materialien, Formen, Farben und Mustern offenbart. Zweite Filmszene, später: Ruhigen Schrittes geht Binding auf das Werk zu und räumt es ab. Stück für Stück zerlegt er es, ohne Zögern, ohne die üblichen weißen »Vorsicht Kunst!«-Handschuhe, dann ist die Wand leer. Sehr leer. Oder vielmehr: bereit für eine neue Installation. Werke für die Ewigkeit? Diese Anmaßung ist Heiner Binding fremd.

Die beiden nüchtern-sachlich aufgenommenen Atelierszenen sind eingebaut in eine 35-minütige Montage kurzer Videofilme aus den letzten zehn Jahren, die Binding für seine aktuelle Ausstellung im Kolumba zusammengestellt hat. Die anderen Aufnahmen haben scheinbar nichts mit seinem malerischen Werk zu tun: Alltagsbeobachtungen von Menschen, Interieurs, Details, aufgenommen auf Reisen in New York, Japan oder zuhause in Köln, eine Compilation gefundener Bilder und Szenen, die das Leben selber geschrieben hat, ohne Schnitte, ohne Manipulation. Und doch zeigen die filmischen Tagebuchskizzen ein Gespür für ästhetische Eigentümlichkeiten, zwischenmenschliche Gesten, Situationskomik. Vor allem aber erkennt man eine Haltung. Und Haltung spielt in diesem eigensinnigen künstlerischen Werk eine zentrale Rolle.

Im Mittelpunkt von Heiner Bindings Arbeit steht von Beginn an die Malerei. Geboren 1958 in Tuttlingen, studiert er an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe bei Albrecht von Hancke, Georg Baselitz und schließlich einem, der Spuren hinterlässt: dem Multikünstler Per Kirkeby. »Alles falsch machen, was man falsch machen kann, damit das Richtige entsteht«, beschreibt Binding seinen damaligen Ansatz, er experimentiert mit Farbauftrag und Komposition, spontaner peinture automatique, figurativen Darstellungen von Objekten und Natur. Vase, Gesicht, Tisch, Blumen, Wald — aber ein Bild ist ein Bild, kein Abbild. Nicht um Schönheit geht es ihm, vielmehr um Wahrhaftigkeit. Auch wenn am Anfang von Bindings Schaffen abstrakt-expressive Bilder und Gegenständlichkeit stehen, zeigt sich die Tendenz zur Fragmentierung, eine Formauflösung in Richtung Abstraktion.

Diesen Weg wird er weiter gehen. Es entstehen klassische Bildwerke auf Leinwand und Holz, in denen Erinnerungen an Natur und Landschaftserfahrung aufscheinen, aber wie »unklassisch«, unakademisch sind sie gemalt! Die Farbe ist getupft, gestrichen, schraffiert, geschichtet, Verschmutzungen und farbige »Befingerungen« sind zu sehen, Farb- und Bearbeitungsspuren ziehen sich um die Kanten der Leinwand, auf dem Weg vom Bild zum Objekt. Folgerichtig erfahren die Bilder eine Erweiterung, als komplexe Materialassemblagen ragen sie nun in den Raum hinein, integrieren Holzteile, Fundstücke, ornamental bedruckte, gebrauchte Stoffe, die Stimmungen, Erinnerungen und gelebtes Leben,
den Mensch aufrufen.

Sie verstecken nichts, man sieht alles: Keilrahmen, Rückseiten, Tackerklammern, Gebrauchs- und Alterungsspuren, das Verworfene, Zurückgelassene. »Die Arbeiten sollen wie Fundstücke wirken«, sagt Binding, der jeden artifiziellen »Wow«-Effekt meidet. Was beiläufig, wie zufällig, chaotisch wirkt, ist tatsächlich Ergebnis komposito­rischer Genauigkeit und eines oft jahrelangen Prozesses immer neuer Bearbeitungen. Es sind Palimpseste, in die die Zeit sich eingeschrieben hat. Dabei haben diese Arbeiten etwas seltsam zwitterhaftes, sind Momentaufnahmen genauso wie organisch gewachsene Ganzheit.

Eine besonders eindrückliche Installation ist derzeit in Kolumba zu sehen: ein fragiles Konglomerat, das ins Offene strebt und doch zusammenhält (»Liegt alles noch vor uns«, 2019, versch. Materialien und Werke 1984ff.). Kolumba hat Heiner Binding im Rahmen der Jahresausstellung »Aufbrüche« eine Schau mit Arbeiten aus vier Jahrzehnten eingerichtet, von den Zeichnungen der Anfänge (Auf­brüche!) bis heute sind alle Werkphasen vertreten. »… ich habe die Ohne-Titel-Fraktion verlassen« hat Binding sie betitelt.

Es ist eine kleine, sorgsam ausgewählte und inszenierte Auswahl, die den turmhohen Raum 21 des Museums zum Schwingen bringt und den Betrachter in jene Fragen verstrickt, die dieses malerische Werk antreiben. Wann wird etwas überhaupt als gestaltetes Objekt wahrgenommen? Farbe als profaner Anstrich, als Malerei? Dieser Ansatz verortet Bindings Arbeit, bei aller Zeit-Melancholie, im Hier und Jetzt der Gegenwart.