Proletarischer Rebell: Albert Finney in »Samstagnacht bis Sonntagmorgen«

Abenteurer der Leinwand

Die Reihe Filmgeschichten: »Manifeste« zeigt Filme des Aufbruchs aus hundert Jahren

 

Die »Menschwerdung des Menschen« vollziehe sich im Abenteuer, schrieb der Philosoph Giorgio Agamben kürzlich und bezog sich da auf die »Aventuren« mittelalterlicher Ritterromane. Abenteuer neuerer, politisch-ästhetischer Art stehen im Zentrum der »Filmgeschichten«, die sich bis zum Dezember 2020 im Museum Ludwig der besonderen Filmform des Manifest-Kinos widmen. Dabei geht es nicht, wie dieser Titel nahelegt, um Pamphletfilme oder Propaganda, und auch ein Filmprojekt, wie Julian Rosefeldts »Manifesto«, das die Grenze zur Videokunst streift, ist nicht dabei.

Vielmehr ist den ausgewählten Werken gemeinsam, dass sie nach Erneuerung rufen. In Zeiten der Angst, der Rückwärtsgewandtheit und des Rückzugs stehen diese Filme für Offenheit und schlagen einen weiten Bogen. Es sind durchlässige Kinowerke, die Fenster öffnen und zumeist ganz beiläufig dem Medium neue Möglichkeiten erschließen.

Prototypisch hierfür steht etwa »Cléo — Mittwoch zwischen 5 und 7« (1962), das Regiedebüt von Agnès Varda, der kürzlich verstorbenen Grande Dame, aber eben auch einzigen Frau der Nouvelle Vague.

Corinne Marchand spielt die Titelheldin, eine beliebte Sängerin, die sich im Angesicht einer möglichen Krankheit ziellos durch Paris treiben lässt. Um diese Großstadt geht es: Die Flüchtigkeit ihres Lebens und die Intensität, die gerade in dieser Flüchtigkeit geborgen ist, deren Poesie. Und es geht um Lebensgefühle: Für ein paar Stunden fällt Cléo aus der Zeit und driftet. Nahe am Dokumenta­rischen und mit einer bewegten reportagehaften Kamera, gelegentlich fast schon im »Dogma 95«-Wackelstil, ist »Cléo« ein Chronikfilm, wie damals viele entstanden. Soziologisch informiert notieren sie die neue Intensität der jungen Nachkriegsgeneration, die ein paar Jahre später die Revolte wagte.

Eröffnet wird am 29. April mit einem genau hundert Jahre alten Schlüsselwerk des Expressionismus. In Karlheinz Martins »Von morgens bis Mitternacht« wird die Straße und die Architektur der Großstadt selbst zum bedrohlichen Akteur. Die Bilder sind dabei geprägt durch flache Räume, ­Überblendungen und quasi-dokumentarische, zugleich emotional erhitzte Szenen. An diesen Schauplätzen begegnet man zerrütteten Menschen und der Krankheit der Gefühle. Begleitet wird diese Vorführung live von der elektronischen Musik von Tobias Thomas (Kompakt).

Zur Erforschung von Zeit und Zeitdruck in »Von morgens bis Mitternacht«, »Cléo« oder auch »Samstagnacht bis Sonntagmorgen« von Karel Reisz aus dem Jahr 1960 tritt die des Raumes. Dabei wird auch das Bewusstsein der Menschen, ob der Zuschauer vor der Leinwand oder der Figuren auf ihr, neu kartographiert. Mal ist es Brasilien, wo Glauber Rocha 1964 seine »Ästhetik des Hungers« schrieb und die Revolte gegen den globalen Norden ausrief: »Erst wenn er mit Gewalt konfrontiert ist, kann der Kolonisator durch den Horror die Stärke der ausgebeuteten Kultur verstehen.« Dann Indien: »Pather Panchali«, das Debüt von Satyajit Ray aus dem Jahr 1955 ist ein Klassiker des indischen Kinos. Die Spaltung von Stadt und Land, verkörpert durch die Reise des Jungen Apu und seiner armen Familie, findet sogar im heutigen auseinanderdriftenden Deutschland ungeahnte Parallelen.

Allen Filmen gemeinsam ist, dass sie kein Manifest illustrieren, sondern selber eines sind. Auf der Suche nach dem Film von Morgen verabschiedet man sich nicht zuletzt von klassischen Narrationen und Dramaturgien. »An attitude means a style. A style means an attitude« — Stil und Haltung ­fallen ins eins hieß es beispielsweise 1956 im britischen »Free Cinema Manifesto«, mit dem ein ganzes Jahrzehnt der Neuen Wellen und Neuerfindung des Kinos begann.

Dieses Jahrzehnt zwischen 1956 und 1966 war die vielleicht wirklich beste Zeit des Kinos. In ihr ereignete sich der Umbruch des klassischen Studiozeitalters zur Moderne. Und so stammen alles andere als zufällig fünf der neun ausgewählten Filme aus dieser Dekade. Karel Reisz schuf in »Samstagnacht bis Sonntagmorgen« einen neuen Heldentyp: den proletarischen Rebellen, der immer ­wieder Provokation und Abenteuer sucht. Doch zugleich ist der von Albert Finney gespielte Arthur eingezwängt ins stählerne Korsett des eintönigen Arbeiterlebens.

So ist auch das Abenteuer nicht mehr, was es mal war. »Den Film von morgen werden Abenteurer drehen«, schrieb der optimistische François Truffaut zur Zeit von Agnès Vardas Debüt: »Ich stelle mir den Film von morgen vor wie ein Bekenntnis oder wie ein Tagebuch. [...] Der Film von morgen wird nicht von Beamten hinter der Kamera gedreht werden, sondern von Künstlern, für die das Drehen eines Films ein wunderbares und erregendes Abenteuer darstellt.«


Die meisten Filme werden als 35- und 16-mm-Kopien präsentiert und von Filmexperten eingeführt. Infos: filmforumnrw.de