Wackelkontakte

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 218

Trinkhalle Hirmsel hat nun geschlossen. Herr Hirmsel sagt: »Die mit ihrem scheiß Corona!« Das tut mir leid für Herrn Hirmsel, einerseits. Andererseits: lauwarmes Bier, Brühwürstchen-Burger aus der Mikrowelle. Seine Stammkunden stehen jetzt vor dem ersten Schritt hin zu einer nachhaltigen Ernährung.

Greta Thunberg (die Klimaaktivistin, nicht die berühmte Floristin aus Pirmasens) rief vor kurzem noch: »Ich will, dass Ihr panisch werdet«, und wir haben alle im Geiste applaudiert. Aber einem Aufruf zur Panik spendet jetzt niemand mehr Beifall. Nun heißt es, dass kein Grund zur Panik bestehe. Klima und Corona, wann ist Panik angemessen?

Wenn man Oma Porz besser nicht mehr besuchen soll? Oma Porz sagt: Och, ich bin mal froh, wenn ich meine Ruhe hab. Sie meint das Kaffeekränzchen, das mehr ein Likörchenkränzchen ist, und immer bei ihr stattfindet. Mit Lebensmitteln wird Oma Porz versorgt. Unten in den Aufzug rein, oben holt sie’s raus. Dabei hat Oma Porz immer schon einen großen Vorrat angelegt gehabt. So gesehen betreibt Oma Porz seit Jahrzehnten einen unauffälligen Hamstergroßeinkauf. In ihrer Wohnung gibt es nämlich eine kleine Kammer, da steht alles immer drin. Neulich habe ich eine Konserve gesucht, Schlesische Gurkenhappen. »Mindestens haltbar bis: 10/2016« stand da drauf. Oma Porz sagte: »Wenn die Sachen ganz hinten stehen, komm ich nicht dran.« Ich hab neue gekauft. Zum Glück hamstert niemand Schlesische Gurken­happen. Die Massen haben sich für Klopapier entschieden.

Klopapier fehlt in den Supermärkten mancher Stadtteile, in anderen fehlen die Avocado-Dips. Vielleicht fahren aber auch die Avocado-Dipper mit ihrem Auto anschließend in die anderen, kulinarisch eher volkstümlichen Stadtteile, um sich dort, wo sie keiner kennt, mit Klopapier einzudecken. Klopapierkaufen ist nämlich verpönt. Übrigens ist der Klopapierhamsterkauf ebenso weit verbreitet wie die Klopapierhamsterkauf­berichterstattung.

Ich bekenne, auch ich habe Klopapier gekauft. Ich schwöre, ich hatte wirklich keines mehr. In der Schlange standen Menschen, die offenbar sehr häufig Stuhlgang haben. Sie hievten Mengen, die nicht haushaltsüblich zu nennen sind, auf das Band. Andere Kunden rollten mit den Augen, und zwar so, dass es jeder sehen konnte. Schon jetzt ist ja die Klopapierrolle das Symbol der Corona-Krise, so wie die Banane das Symbol der Wiedervereinigung war.

Gesine Stabroth ist auch Hamsterkäuferin. Sie braucht zum Frühstück immer Zuckerrüben­sirup, vielleicht eine Reminiszenz an bessere Kindertage. Der Zuckerrübensirup ist in Pappdosen gefüllt. Einmal haben Gesine Stabroth und ich uns sehr gestritten. Da warf Gesine Stabroth die Pappdose nach mir — geschickt wich ich aus! Seitdem ist auf ihrem Teppich ein Fleck, ganz schwach nur noch, wir haben später daran geschrubbt, aber man kriegt das Zeugs nicht mehr ganz weg. Wir haben uns längst wieder vertragen, als wir uns neulich verabschiedeten, sagte Gesine Stabroth: »Wir bleiben in Kontakt.«

Wenn ich nun in meiner Wohnung sitze, denke ich, dass ich dieser Zuckerrübensirup-Fleck bin. Ich bin noch da, man kann mich sehen, aber man muss schon genau hingucken.

»Wir bleiben in Kontakt.« Wenn ich ein Rührstück zu schreiben hätte, würde ich mir diesen Satz für die entscheidende Szene aufheben. Wir bleiben in Kontakt — wie das jetzt klingt. Und was heißt Kontakt? Ab und an eine SMS? Mir fällt auf, dass meine Kontakte gegenüber früher nicht sonderlich häufiger sind. Obwohl es technisch so leicht fallen würde, sind die meisten Kontakte nach wie vor Wackelkontakte. Von Gesine Stabroth habe ich seit Tagen nichts gehört. Vielleicht ist nicht nur Oma Porz froh, mal Ruhe zu haben?