Verzichtet auf Hamsterkäufe: Die Amsel und viele andere Tiere erobern sich derzeit die Stadtnatur zurück

Freie Wildbahn

Viele Tiere nutzen aus, dass die Stadt leiser und menschenärmer ist. Was aber passiert, wenn der Trubel zurückkehrt?

In Corona-Zeiten sind gute Neuigkeiten rar. Das ändert sich, wenn man die Perspektive wechselt. Wo sich der Mensch notgedrungen zurückzieht, ist die Natur auf dem Vormarsch. In den Kanälen von Venedig ist das Wasser wieder klar und Fische schwimmen durch die Stadt. An den Stränden Brasiliens brüten seltene Schildkröten-Arten, die dort seit Jahren nicht zu sehen waren. Und durch den walisischen Kurort Llandudno flanieren Kaschmir-Ziegen, die sonst auf einer Anhöhe vor den Toren der Stadt leben.

Wenn der menschliche Alltag wieder hochgefahren wird, werden manche Tiere vermutlich Probleme bekommen

Pflanzen und vor allem Tiere brauchen nicht lange, um die Leerstelle zu füllen, die ihnen der Mensch nun lässt. Auch in Köln. »Der Pulsschlag der Stadt ist ruhiger geworden. Für Tiere bietet sich eine Gelegenheit, neue urbane Naturräume zu erobern«, sagt Achim Kämper vom Nabu Köln. Der Zeitraum sei zwar noch zu kurz, um langfristige Veränderungen nachzuweisen. »Aber im Kleinen lässt sich schon jetzt viel beobachten«, sagt Kämper. Vor allem wo die Präsenz des Menschen zurückgegangen ist, seien wieder vermehrt Tiere anzutreffen. »Derzeit kommen die ersten Zugvögel zurück, zum Beispiel Grasmücken, und besetzen Flächen, auf denen sich der Mensch nicht aufhält«, sagt Kämper. Auch Sven Meurs hat jüngst solche Beispiele entdeckt. Der Kölner Fotograf ist seit vielen Jahren auf die Dokumentation von urbaner Wildnis spezialisiert. »Man sieht mehr Tiere, weil sie seltener gestört werden«, so Meurs. Manche Arten könnten sich besonders schnell an veränderte Lebens­bedingungen anpassen. »Der Fuchs hat zum Beispiel sofort gemerkt, dass weniger Verkehr und Menschen unterwegs sind«, sagt Meurs. Er selbst beobachtet derzeit täglich bei Sonnenaufgang einen Eisvogel. »Ein unglaublich störempfindliches Tier. Normalerweise fliegt der weg, wenn man sich ihm nur auf 60 oder 70 Meter nähert«, erzählt Meurs. »Im Moment toleriert er eine Entfernung von 15 Metern.« Dass gerade bei vielen Vogelarten der Stresslevel sinkt, hat auch Achim Kämper vom Nabu festgestellt. »Vögel müssen im Stadtlärm teilweise um die 15 Dezibel lauter sein, um sich hörbar zu machen und ihr Revier abzugrenzen.« Laut Berechnungen des Spiegel ist das Verkehrs­aufkommen in Köln seit Beginn der Ausgangs­beschränkungen um teilweise über 50 Prozent zurück­gegangen. »Die Vögel ändern deshalb ihr Gesangsverhalten. Die Amsel singt zum Beispiel leiser, weil ihr Reviernachbar sie trotzdem hört«, sagt Kämper.

Während viele Tiere den Lockdown nutzen, um ihren Lebensraum in der Stadt zu erweitern, könnte ein Ende der Ausgangs­beschränkungen für den Menschen wiederum negative Folgen für die Tiere haben. Davon könnten vor allem Vögel betroffen sein, die sich derzeit in ihrer Brutsaison befinden. »Wie reagiert die Meise, die gerade an einer Schule brütet, wenn bald die Kinder zurückkommen? Was passiert mit den Kanadagänsen, die unter einer Brücke im Mediapark ihr Nest bauen, wenn sie dort wieder häufiger gestört werden?« Die Antworten auf seine Fragen kennt auch Fotograf Sven Meurs nicht. »Wenn der menschliche Alltag wieder hochgefahren wird, werden manche Tiere vermutlich Probleme bekommen«, sagt Meurs. Auch für ihn sei spannend zu beobachten, wie die verschiedenen Arten mit der Situation umgehen werden.

Sven Meurs: »Großstadt Wildnis — Auf Tiersafari in unseren Städten«, Knesebeck, 192 S., 30 Euro

 

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