Die neue Zeit - Köln in der Corona-Krise: Digital reicht nicht

Wie unterrichtet man eine Schulklasse, wenn sie gar nicht mehr beisammensitzt? Und was muss sich in den Schulen ändern, wenn die Corona-Krise über­wunden sein wird?

 

»Wie halten wir den Kontakt zu den Kindern? Wie schaffen wir es, alle zu erreichen? Erfahren alle Fürsorge und Anregungen für ihr tägliches Lernen? Erfahren sie häusliche Konflikte oder Gewalt? Hängen sie die ganze Zeit vor Computerspielen? Und was bedeutet der Shutdown für Kinder mit Inklusionsbedarf?« Das sind einige der Fragen, die sich Johannes Köper, Schulleiter der Gemeinschaftsgrundschule Halfengasse in Niehl in diesen Tagen stellt. Dabei sind die Zustände an der Niehler Grundschule vergleichsweise solide. Benachteiligte familiäre Verhältnisse gebe es nur bei knapp zwanzig Prozent der rund 200 Kinder, sagt Köper. Das gesamte Schulteam habe sich gleich nach den Schulschließungen mit den neuen Herausforderungen auseinandergesetzt. Man habe aber nach ausführlichen Beratungen zunächst keine Notmaßnahmen einleiten müssen, sagt er. Aber natürlich stehe man im ständigen Austausch mit Schulaufsicht, Stadtverwaltung und Jugendamt.

»Die Eltern sind wirklich sehr bemüht, die Vorgaben der Schule für die Zeit zu Hause umzusetzen«, sagt Jennifer Marx, Lehrerin an der Grundschule Halfengasse. »Am Montag nach der Schulschließung habe ich noch den Klassenschrank durchgesehen und die Eltern informiert, sie möchten bitte noch Bücher und Hefte für die Kinder abholen, das hat auch gut funktioniert. In anderen Stadtteilen mit anderer Sozialstruktur mag das aber anders aussehen.« Jennifer Marx ist im zweiten Jahr Klassenlehrerin in Niehl. Es ist ihre erste Klasse — und muss gleich zur Hälfte des zweiten Schuljahrs mit einer epochalen Krise umgehen. Wie unterrichtet man 7- und 8-Jährige, ohne vor der Klasse zu stehen? Wie gibt man Unterricht in der Corona-Krise?

»Wir sind kalt erwischt worden von der Notwendigkeit, pädagogisch und methodisch plötzlich distance learning, also Fernunterricht, umzusetzen«, sagt Schulleiter Köper. »Schule ist geprägt von räumlicher Präsenz. Auf Lehren und Fördern über Distanz waren wir weder technisch noch fachlich eingestellt.« Jede Schule sei derzeit gezwungen, einen eigenen Weg zu finden.

»Etwa zeitgleich mit der Schulschließung wurden wir auf eine digitale Lernplattform hingewiesen«, sagt Klassenlehrerin Marx. »Aber weder die Kinder noch wir Lehrer kannten die zuvor.« Marx, die Fortbildungen zum digitalen Lernen genommen hat und betont, sie sei medienaffin, sagt auch, es sei gar nicht möglich, alles digital zu vermitteln. »Jetzt geht es vor allem um Mathe und Deutsch — aber es gibt ja auch noch Sport, Englisch, Musik, Kunst, Religion, Sachunterricht.« Gut findet Marx, dass nach den ersten drei Wochen der Schulschließung das städtische Medienkompetenzteam Informationen zu Apps und Plattformen, die in dieser Zeit als hilfreich getestet wurden, allen Schulen als digitale Flyer zugeschickt hat. »Da sind Lern-Apps und Plattformen zur Kontaktaufnahme mit den Schulkindern verständlich aufgeführt«, sagt Marx. »Das lädt so zum gemeinsamen Ausprobieren mit den Kindern ein.« Außerdem verschickt Jennifer Marx Arbeitsblätter, hat alle Eltern einmal angerufen und eine digitale Pinnwand organisiert. Sie hat die Kinder auch ermuntert, ihr Postkarten, Briefe oder E-Mails zu schreiben. Aber das ist für die Kinder eben nicht dasselbe, wie der persönliche Austausch an der Schule, zumal in diesem Alter.

»Natürlich rächt sich jetzt auch, dass der Digitalpakt noch nicht umgesetzt ist«, sagt Schulleiter Johannes Köper. »Aber auch Tablets ersetzen keinen Schulunterricht und keinen sozialen Schulalltag.« Zum schulischen Lernen gehöre ja auch das Lernen der Kinder mit- und untereinander: sich über Unterrichtsstoff austauschen, Konflikte klären. »Vieles dieser Lernangelegenheiten fallen nun komplett weg.«

Auch Tina Wagner, Lehrerin am Gymnasium Rodenkirchen, denkt an die Lage der Schülerinnen und Schüler in der häuslichen Umgebung. »Viele Familien können ihre Kinder nicht so unterstützen, wie es jetzt vielleicht nötig wäre«, sagt Wagner. »Meine größte Sorge gilt den Kindern, die aus schwierigen Familien kommen.« Und die gibt es am Rodenkirchener Gymnasium, denn zum Einzugsgebiet gehören eben nicht nur Rodenkirchen und Marienburg, sondern auch Meschenich und Immendorf mit ihren sozialen Brennpunkten. »Ich habe zum Teil das Lehrmaterial ausgedruckt und selbst dort vorbeigebracht«, sagt Wagner, die auch Videokonferenzen organisiert. »Aber auch da machen ja nicht alle mit. Je länger die Schulen nicht wieder komplett geöffnet sind, desto mehr fallen die hinten runter, die von zu Hause keine Unterstützung haben.« Wie geht es nach den Schulschließungen weiter? »Wenn in manchen Klassen die Beschulung noch länger nicht stattfinden sollte, muss man im nächsten Schuljahr eine längere Wiederholungsphase einbauen«, sagt Wagner. »Da derzeit die Lehrpläne am Gymnasium von G8 auf G9 umgeschrieben werden, kann man die Wissenslücke mitbedenken. Zum Glück kommt diese Umstellung ohnehin, so haben wir jetzt mehr Luft. Mit G8 wäre das ein größeres ­Problem.«

An der Grundschule in Niehl sieht man das Problem eines unterschiedlichen Lernstandes als nicht ganz so problematisch an. »Auf Grundschulen ist es immer so, dass Kinder unterschiedliche Lernstände haben, zumal an einer inklusiven Schule wie unserer«, sagt Klassenlehrerin Jennifer Marx. »Drei bis vier unterschiedliche Niveaus etwa in Mathe sind ganz normal, erst nach der 4. Klasse wird es auf den weiterführenden Schulen dann eher einheitlicher.« Dennoch ist man auch in Niehl froh, wenn die Eltern mit ihren Kindern das Gelernte in der schulfreien Zeit festigen. Allerdings sagt Schulleiter Köper auch: »Manche Eltern bringt das an ihre Grenzen. Ich finde, Eltern müssen sich nicht zum Erfüllungsgehilfen der Schule machen. Oft ist ein toller Ausflug in den Wald viel wichtiger als das Arbeitsblatt Mathe.« Es gebe durchaus Fälle, wo Hausaufgaben zur Beschäftigungstherapie für Eltern würden. »Dann spielt man daheim Schule, aber es ist nie klar, ob das zu viel ist oder reicht.« Deshalb habe man auf digitaler Ebene Kommunikations- und Austauschmöglichkeiten geschaffen. Außerdem kommuniziere man mit den Familien über E-Mail, Telefon und Briefe.

Mit einer allmählichen Wiederaufnahme des Betriebs stehen die Schulen nun vor neuen Herausforderungen. Vieles muss organisiert werden: Schichtbetrieb, Abstands- und Hygieneregeln. Bis zu dem regulären Schulalltag werde es noch lange dauern, sagt Johannes Köper. »Die Hygienevorschriften werden erst einmal dazu führen, dass wir nie alle gleichzeitig beschulen können. Ich hoffe aber auf ein rollierendes System, durch das wir Kinder aller Jahrgangsstufen einmal pro Woche sehen können.«

Tina Wagner vom Gymnasium Rodenkirchen fürchtet, dass sich nach dem Shutdown der Lehrermangel zuspitzt. »Lehrer, die älter sind oder vorerkrankt, werden vielleicht erst mal nicht zurückkommen«, sagt sie »Wir müssen schauen, wie wir das ausgleichen.«

Nach der Krise müsse man an der Grundschule die Kinder auch emotional auffangen, sagt Schulleiter Johannes Köper. »Für manche war die Zeit womöglich nicht so schlimm, andere aber waren vielleicht mit Erkrankungen oder gar Todesfällen im Umfeld konfrontiert.« Die Verantwortlichen in Politik und Schule müssten sich jetzt grundsätzliche Fragen stellen, fordert Köper: Welche Funktionen hat Schule eigentlich neben der Aufgabe der Wissensvermittlung und der Vermittlung von Schulabschlüssen? Wie können soziale und kulturelle Lebenswelten von Kindern besser berücksichtigt werden? »Jetzt wird deutlich, wie wichtig soziales und personales Lernens und ein guter, empathischer, vor allem auch professioneller Kontakt der Lehrkräfte zu den Lernenden ist.« Eine bessere und vereinheitlichte digitale Ausstattung und die Schulung der Lehrkräfte als Reaktion auf die Krise, sei nicht genug. »Es geht darum, grundsätzliche Leitlinien und gesellschaftliche Verabredungen zu finden. Dazu gehört auch, Teilhabe und Bildung im Zusammenspiel von Schule, Familie, Kinder- und Jugendhilfe und Vereinen zu reflektieren.« Die Schülerinnen und Schüler bräuchten »ein hohes Maß an Wertschätzung als Person«, um zu lernen, warum Wissenszuwachs wichtig ist und spannend sein kann. Im Idealfall sollten die Lehrenden »Lernbegleitungen der Schulkinder sein und sie vor allem intensiv dabei unterstützen, das Lernen möglichst lustvoll eigenständig gestalten zu können.« Für Johannes Köper wäre es jetzt die Gelegenheit, grundsätzliche Fragen zu stellen. »Es braucht nicht nur Finanzmittel nach der Krise, sondern vor allem eine Verständigung darüber, dass Teilhabe, Bildung und Lernen systemrelevant sind.« Zurzeit aber sind Politik und Verwaltung vor allem damit befasst, überhaupt wieder zum Status quo zurückzukehren.

Jennifer Marx hofft, dass es bald wieder losgehen kann, sie vermisst ihre Klasse. »Ich bin schließlich Lehrerin«, sagt sie. So geht es auch Tina Wagner. »Wir freuen uns alle, wenn wir wieder in die Schule dürfen. Diese Freude ist größer als die Sorge um die eigene Gesundheit.«