Die neue Zeit - Köln in der Corona-Krise: »Deutschland ist autoritärer geworden. Aber das muss nicht so bleiben«

Demoverbote, Risikogruppen-Isolation und Polizeiwillkür — bringt die Corona-Krise einen neuen Autoritarismus hervor? Ein Chat mit dem Politikwissenschaftler Floris Biskamp

 

Christian 5.4., 13.33 Uhr

Hi Floris,

schöne Grüße aus dem Homeoffice. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Politik autoritärer wird. Dem richtigen Ziel der Corona-Bekämpfung werden wichtige politische Prinzipien untergeordnet: In Berlin kann die Polizei sehr willkürlich Verstöße gegen das Kontaktverbot kontrollieren, in NRW wollte die Landesregierung die freie Berufswahl für medizinisches Personal aushebeln. Und dazu kommt die Diskussion über Bewegungsdaten. Wie siehst du das, wird Deutschland in der Krise autoritärer?

Floris 8.4., 16.05 Uhr

Hallo Christian,

schöne Grüße zurück aus der amtlich verordneten Quarantäne. Ja, es geht gut — zumindest, solange ich nur an mich selbst denke.

Wenn »autoritär« heißt, dass Regierung und Sicherheitsapparate verstärkten Zugriff auf das Leben von Bürger*innen haben, die Abwehrrechte der letzteren geschwächt sind und viele das auch noch gut finden, dann ist Deutschland derzeit autoritärer als vor zwei Monaten. Im besten Falle hat der Rechtsstaat aber für solche Fälle vorgesorgt und möglichst viele Ausnahmen möglichst genau definiert. Im aktuellen Fall könnte man vom Infektionsschutzgesetz genau diese Regelungen erhoffen. Jedoch ist dieses Gesetz in heute entscheidenden Punkten unklar, viele der Maßnahmen haben einen Improvisationscharakter und lassen Interpretationsspielräume. Das heißt immer auch Raum für Polizeiwillkür, institutionellen Rassismus und andere Formen der Schikane.

Ob das Land auch insgesamt und nachhaltig autoritärer wird, hängt davon ab, ob die Rechte der Exekutive und die Obrigkeitshörigkeit der Bevölkerung nach dem Ende der Pandemie wieder auf das alte Maß zurückschrumpfen. Ob das passiert, dürfte wiederum davon abhängen, wie energisch wir diese Rücknahme fordern, wenn es so weit ist.

Christian 9.4., 16.26 Uhr

Ich hoffe, deine Quarantäne geht gut aus. Ist das aber nicht ein Problem des momentanen Infektionsschutz­gesetzes, dass das Gesundheits­ministerium entscheidet, wann die Bedingungen für eine Pandemie gegeben sind? Das bedarf einer juris­tischen Überarbeitung. Noch mehr Sorgen macht mir aber die Chance, im Moment zu protestieren — egal ob gegen Polizeiwillkür oder die sozialen und ökonomischen Folgen der Krise. Dieser Protest kann gerade fast nur im Netz stattfinden.

Floris 9.4., 17.32 Uhr

Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Entscheidung wirklich im Bundesgesundheitsministerium getroffen würde. Vielmehr scheint da relativ vieles verhandlungsdemokratisch zwischen Kanzlerarmt, diversen Bundesministerien und Landesregierungen unter teilweiser Einbeziehung von Oppositionsparteien beschlossen zu werden. Dennoch wird das Infektionsschutzgesetz einer Überarbeitung bedürfen.

Die von Dir angesprochenen Schwierigkeiten außerparlamentarischer Oppositionsarbeit in der Corona-Krise betrachte ich ebenfalls mit Sorge und Ratlosigkeit. Es ist zu erkennen, dass die Polizei an vielen Stellen einen deutlichen Übereifer bei der Unterbindung politischen Protests an den Tag legt. Es ist verständlich, dass aktuell keine gedrängten Massenveranstaltungen stattfinden können. Dass aber auch andere Äußerungen von Protest — und seien es nur Transparente — ebenfalls energisch unterbunden werden, ist nicht nachvollziehbar. Dieser Übereifer der Polizei im Vorgehen gegen Protest ist freilich nicht neu, sondern ein Teil der Normalität, der in der Krise nur anders sichtbar wird. Ähnliches gilt für soziale Ungleichheit und ungleiche Verwundbarkeiten. Diese bestehen ohnehin schon, aber nehmen nun neue Formen an und werden schärfer, je länger die Krise dauert. Anfangs scheint das Virus tatsächlich keinen Unterschied zwischen arm und reich gemacht zu haben. Je weiter sich die Pandemie verbreitet, desto relevanter wird aber die Frage, wer sich komfortabel isolieren kann und wer mit vielen anderen auf engem Raum zusammenleben muss, wer sich Hygiene, Schutz, Tests und medizinische Versorgung leisten kann und wer nicht. Dies gilt sowohl national als auch international.

Christian 10.4., 11.17 Uhr

Der offensichtlichste Indikator dieser Ungleichheit ist die hohe Covid-19-Todesrate in Alten- und Pflegeheimen. Dort versorgen mangelhaft ausgestattete Care Worker die vulnerabelste Gruppe: alte Menschen. Die sind aber als »Risikogruppe« zugleich Gegenstand einer politischen Debatte: Sie sollen isoliert werden, damit wieder stärkere ökonomische Aktivität möglich ist. Das ist für mich ein Eingriff in die Grund­rechte der Risikogruppe, der mit malthusianischen Phantasien der Bevölkerungssteuerung einhergeht.

Floris 11.4., 19.06 Uhr

Die Befürworter*innen dieser Isolationsstrategie führen ja neben dem Wohlergehen der Wirtschaft auch selbst die Verteidigung von Grundrechten und Freiheit im Munde: Diese seien aktuell unnötigerweise für alle eingeschränkt, dabei reiche es doch eigentlich aus, diese Maßnahmen auf diejenigen zu begrenzen, die wirklich vor dem Virus geschützt werden müssten: Alte und Vorerkrankte. Ich sehe da eine Verschränkung von Utilitarismus, Paternalismus und Selbstüberschät­zung am Werk: Utilitarismus, weil man souverän berechnet, wieviel Grundrechtseinschränkung für wen insgesamt den größten Nutzen hat; Paternalismus, weil man die Isolation einer Minderheit als Maßnahme zu ihrem Schutz darstellt; Selbstüberschätzung, weil man sich selbst die völlig unrealistische Fähigkeit zuschreibt, ein unkontrollierbares und hochdynamisches Infektionsgeschehen kontrolliert ablaufen zu lassen. Und das führt wieder zurück zu den Pflegeheimen. Denn genau diese Risikogruppen, die man so gründlich isolieren möchte, sind ja zu erheblichen Teilen auf Pflege und medizinische Versorgung angewiesen. Gerade wenn man die von Dir angesprochenen Zustände bedenkt, kann das gar nicht gutgehen.

So ganz neu sind diese Denkmuster nicht. Utilitarismus und Paternalismus kommen dem Alltagsverstand näher als eine Ethik, die allen Menschen die gleiche, unveräußerliche und unverhandelbare Würde zuspricht — auch wenn letztere die offizielle Richtschnur unseres politischen Systems ist.

Bei der Bewertung solcher Positionen muss man aber fairerweise anerkennen, dass eine wirklich vielversprechende und ethisch einwandfreie Handlungsoption gar nicht auf dem Tisch liegt. Ich würde mir ja immer noch wünschen, dass man das Infektionsgeschehen erstickt, wie es in Südkorea und vielleicht auch in Norwegen gelingt. Aber dafür kann es sehr gut schon zu spät sein.

Christian 12.4, 12.10 Uhr

Südkorea hat dank SARS ein funktionierendes Seuchenfrühwarnsystem, Norwegen ist mit 15 Einwohnern pro km2 dünn besiedelt. Deren Strategien lassen sich nicht auf Deutschland übertragen, weil die Voraussetzungen andere sind. Ich sehe aber vor allem Unterschiede in den Reaktionen auf die Corona-Krisa. Leute, die Südkorea als gutes Beispiel anführen, loben die wissenschaft­liche, evidenzbasierte, technologisch avancierte Herangehensweise. Leute, die eher Schwedens Ansatz gut finden, haben oft einen recht naiven Begriff von Freiheit: Sie wollen ohne Einschränkung rausgehen und sich wirtschaftlich betätigen. In dem Milieu finde ich aber auch Bewunderung für »starke Typen«, die nach autoritären Mustern vorgehen, etwa Boris Johnson oder Donald Trump. Du beschäftigst dich beruflich viel mit Rechtspopulismus. Wie erklärst du dir das?

Floris 13.4., 18.11 Uhr

Für mich resultiert der Wunsch, dass sich hier ähnliches wie in Südkorea erreichen ließe, aus einer viel einfacheren Motivation: Ich sehe keine andere Variante, die nicht zwingend auf sehr viele Todesopfer hinausläuft. Und ich bin nicht ohne weiteres bereit, mich damit abzufinden, dass sehr viele Menschen sterben. Aber ich sehe auch, dass die meisten Expert*innen das anders einschätzen und hoffe, dass ich unrecht habe.

Ein Problem des Autoritarismusbegriffs besteht darin, dass man vieles und sein Gegenteil mit guten Gründen als »autoritär« bezeichnen kann. Erstens kann man die Sehnsucht nach einem starken Anführer, der für uns alle schmerzhafte Entscheidungen trifft und hart durchgreift, als autoritär bezeichnen. Dann sind die hohen Zustimmungswerte für Söder oder Kurz ein Ausdruck von Autoritarismus. Zweitens kann man mit dem Autoritarismusbegriff auch das Verhalten von Trump und Bolsonaro in der Frühphase der Pandemie fassen. Beide schienen zu glauben, sich mit ihrer Autorität über die Realität hinwegsetzen und Covid-19 zu einer kleinen Grippe deklarieren zu können, die — hier kommt Verschwörungstheorie hinzu — durch bösartige Medien und andere Volksfeinde unnötig aufgebauscht werde. Selbiges gilt auch für die selbsterklärten Freidenker in sozialen Medien, die bei jeder Gelegenheit erklären, dass sie »bei der Hysterie nicht mitmachen«. Drittens muss es wohl auch unter Autoritarismus fallen, wenn der wahrscheinliche Tod von Hunderttausenden und Millionen achselzuckend hingenommen wird, um für möglichst viele andere den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten. Jede dieser Verwendungen des Autoritarismusbegriffs macht Sinn und einige lassen sich kombinieren. Aber man sollte sie möglichst auseinanderhalten, sodass es wenig sinnvoll ist, von Autoritarismus im Allgemeinen zu sprechen.

In Bezug auf die radikale Rechte ist in der aktuellen Krise vor allem bemerkenswert, dass sie denselben Gesetzen unterworfen zu sein scheint wie alle anderen Parteien auch: Aktuell ist die Stunde der Exekutive, wovon Regierungsparteien profitieren und worunter Oppositionsparteien leiden. Da, wo radikale Rechte schon an der Regierung sind, können sie durchaus von der Krise profitieren. Dies gilt sogar für Trump, der die Reaktion auf die Pandemie lange Zeit untergraben hat. Nun, da es zur von ihm mitverantworteten Katastrophe kam, tritt er täglich im Fernsehen als Krisenmanager auf, während sein Konkurrent Joe Biden zum Nichtstun verdammt ist. Auch wenn Trumps Zustimmungswerte nicht so stark gestiegen sind wie zum Beispiel die der Union in Deutschland, liegen sie heute auf dem höchsten Stand seit drei Jahren. Je nachdem, was in den nächsten Monaten passiert, könnte ihm das den Weg zur Wiederwahl ebnen.

Christian 15.4., 22.31 Uhr

Hoffentlich bleibt uns wenigstens das erspart. Danke für deine Zeit.

 

Floris Biskamp ist Koordinator des Promotions­kollegs Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Uni Tübingen. Er lebt in Köln.