Die neue Zeit - Köln in der Corona-Krise: Über dem Limit?

Das Gesundheitswesen spielt in der Corona-Krise eine zentrale Rolle. Wie wird es sich danach ­entwickeln?

 

Jeden Abend, Punkt 21 Uhr, wurde in den letzten Wochen in Köln geklatscht und gejubelt. Meistens ist es kurz, aber jedesmal heftig. Der Applaus gilt all denen, die im Gesundheitswesen tätig sind — oft mit langen Arbeitszeiten und für einen niedrigen Lohn.

»Die Wertschätzung ist völlig berechtigt«, sagt Rolf Rosenbrock. »Pflegende haben ein hohes ethisches Bewusstsein. Sie sind bei der Arbeit motiviert und achten auf Qualität. Aber sie gehen langsam aber sicher in die Knie.« Rosenbrock hat diese Entwicklung begleitet. Der emeritierte Gesundheitswissenschaftler war Mitglied im Sachverständigenrat des Bundestags für das Gesundheitswesen. Heute ist er Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands. Er hat die Einführung der Fallpauschalen miterlebt und wie sich die Lage für niedergelassene Ärzte verschlechtert hat: »Der gesamte öffentliche Gesundheitsdienst hat heute mehr Pflichten, aber weniger Ressourcen.« Die Konsequenz: Es fehlt an Pflegepersonal, viele Fachkräfte verlassen den Beruf.

Aber vielleicht bietet sich in der Corona-Krise eine Chance. Die Arbeit von Pflegekräften ist jetzt in ihrer Wichtigkeit sichtbar. Aber wie kann man man dies in bessere Arbeitsbedingungen übersetzen? Für Rosenbrock hängt das davon ab, wie die Care Worker ihre Interessen organisieren. »Aber auch die Medien müssen an dem Thema dran bleiben.« Ralf Unna, Arzt, grünes Ratsmitglied und Vorsitzender des Gesundheitsausschusses der Stadt Köln schlägt zudem eine symbolische Anerkennung vor: »Pflegekräfte sollen ein Jahr kostenlos mit der KVB fahren können.« Aber langfristig müssten andere Maßnahmen die Bezahlung der Pflegekräfte verbessern, sagt Unna: »Die Pflegezeit sollte bei der Abrechnung der Fallpauschalen stärker miteinbezogen werden«. Bislang würden dort Operationen stärker berücksichtigt als die Vor- und Nachsorge, was dazu führe, dass Krankenhäuser weniger in die Pflege investieren als notwendig sei. »Wenn das System hochwertige Pflege finanziell belohnt, regelt sich der Rest von alleine«, meint Unna.

Aber ist die Politik bereit, die dafür nötigen Investitionen ins Gesundheitswesen zu tätigen? Eine Modellstudie der Bertelsmann-Stiftung vom Sommer 2019 behauptet, der Großraum Köln könne mit nur vier Kliniken auskommen. Ralf Unna hält diese Spekulationen mit der Corona-Krise für beendet. Stattdessen denkt er über die Zukunft der städtischen Kliniken nach. Diese schreiben seit Jahren Verluste, bis heute musste die Stadt rund 250 Millionen Euro zuschießen, der Rat hat deshalb eine Fusion mit der Uni-Klinik angestoßen. »Nach Ende dieser Krise müssen wir uns fragen, was das für unser eigenes Agieren in dieser Frage bedeutet«, sagt Unna. »Die Versorgung der Kölner Bevölkerung durch die städtischen Kliniken und Lehre und Forschung in der Uni-Klinik sind zwei verschiedene Ziele.« Unna könnte sich vorstellen, die Diskussion über den Klinikstandort Holweide noch einmal zu führen. Dort könne etwa eine Station für Infektionskrankheiten entstehen, die im Notfall zum Einsatz kommt, aber die restliche Zeit im Minimalbetrieb läuft. »Dafür sind dort aber Umbauten nötig«, sagt Unna. »Und wir müssen auch so ehrlich sein zu sagen, dass diese Entscheidung vom Land getroffen wird, nicht von der Stadt Köln.«

In Köln haben sich in der Corona-Krise aber weniger die Kliniken, sondern die Alten- und Pflegeheime als Problemfälle erwiesen. Dort waren bei Redaktionsschluss Mitte April 39 von bis dahin 63 Corona-Toten zu beklagen. Rolf Rosenbrock begreift dies als Ausdruck einer Hierarchie im Pflegewesen: »Die Altenpflege hat oft den niedrigsten Zugang zu Schutzkleidung, steht aber im andauernden Kontakt mit der Hochrisikogruppe.« Sowohl die Heime als auch die privaten Pflegedienste müssten knapp kalkulieren, im Moment sei es ihnen daher nicht möglich, Vorräte an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln anzulegen oder entsprechende Notfallpläne zu entwickeln. »Die Krisenvorsorge wird aber auf der Agenda bleiben«, ist sich der Gesundheitswissenschaftler sicher. »Ich hoffe, dass dies zur Einsicht mutiert, dass der Staat zur Daseinsvorsorge da ist.«

Aber auch staatliche Maßnahmen helfen nicht, wenn bei der Bevölkerung keine Einsicht in den Ernst von Krisen herrscht. »Das öffentliche Bewusstsein für Hygiene ist noch nicht ausgeprägt genug«, sagt Rolf Rosenbrock. Helfen könnte dabei eine öffentliche Kampagne nach dem Vorbild der AIDS-Kampagnen aus den späten 80er Jahren: »Der Slogan ›Aids geht uns alle an‹ war epidemiologisch nicht ganz korrekt. Aber eine solche Kampagne bräuchten wir jetzt auch.« Rosenbrock befürchtet, dass durch die Corona-Krise ein sozialdarwinistisches Denken wieder populär werden könnte, etwa wenn der Tod oder die monatelange Isolation von Risikogruppen in Kauf genommen wird, um möglichst schnell wieder Geschäfte und Veranstaltungsorte zu öffnen. »Die Frage, wieviel ein Menschenleben kosten darf, ist ethisch nicht zu rechtfertigen«, sagt er.

Ralf Unna schätzt die Gefahr der Stigmatisierung von Corona-Risikogruppen als geringer ein: »Die AIDS-Krise wird sich so nicht wiederholen. Schließlich kann jeder an Covid-19 erkranken«. Ralf Unna sieht in der Corona-Krise dann auch eine Chance, auch eine andere tödliche Krankheit stärker zu bekämpfen: die Grippe. »Das sage ich nicht, um die beiden Krankheiten gegeneinander aufzurechnen, sondern weil die Grippetoten vermeidbar sind«, sagt er. Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Grippe­impfung verpflichtend wird — »auch wenn ich mir mit dieser ­Forderung in meiner Partei nicht nur Freunde machen werde.«