Die neue Zeit - Köln in der Corona-Krise: »Vielleicht werden wir Diversität als Chance begreifen«

Der Psychologe Daniel Wagner erklärt, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Gesellschaft haben kann

Herr Wagner, Sie haben bis vor vier Jahren die Spezialambulanz für Menschen mit Angsterkrankungen an der Uni Köln geleitet. Welche Folgen wird das wochenlange Abstand halten für die Gesellschaft haben?

Wir reagieren völlig verschieden auf die Situation, zumal wir ganz unterschiedlich betroffen sind. Der eine ist finanziell bedroht, ein anderer Risikopatient. Laut einer Berliner Studie über die sozialen Folgen der Corona-Pandemie steht die Existenzbedrohung derzeit im Vordergrund und die tatsächliche Angst vor einer Ansteckung landet auf Platz 8. Grundsätzlich kann man sagen, dass Social Distancing über einen längeren Zeitraum herausfordernd ist, da wir zwischenmenschliche Nähe brauchen. Hinzu kommen Veränderungen in anderen Bereichen wie unserer Tagesstruktur, Bewegung oder Arbeit. Hieraus kann psychischer Leidensdruck entstehen und im schlimmsten Fall sogar ein Anstieg psychischer Erkrankungen oder der Suizidrate. Auch hierauf sollte unser Gesundheitssystem vorbereitet sein. Gleichzeitig sind wir kreativ darin, neue Lösungen zu finden. Plötzlich kommunizieren wir auf digitalem Wege mit Freunden oder Großeltern und organisieren Prozesse neu.

Apropos ältere Menschen. Was bedeutet die Corona-Pandemie für das Verhältnis zwischen den Generationen? Wird es zu zunehmenden Polarisierungen kommen, etwa weil Kinder unbemerkt das Virus weitergeben und ältere Menschen ihnen zukünftig mit Angst begegnen?

Aktuell beobachte ich eher das Gegenteil. Ich sehe gesamtgesellschaftlich ein durchaus solidarisches Miteinander. Zum Beispiel kaufen Jüngere für Ältere ein oder schaffen digitale Angebote. Aktuell gibt es ja sehr viele Fragestellungen, die eines gesellschaftlichen Diskurses bedürfen. Ich denke aber nicht, dass die Polarisierungen sich zuspitzen oder gar soziale Verwerfungen drohen. Im Gegenteil: Aktuell wird mit viel Verständnis reagiert. Vertreter der Wirtschaft denken Gesundheitsaspekte mit, gleichzeitig haben Mediziner auch wirtschaftliche Konsequenzen im Blick. Im Idealfall kommt es sogar zu mehr Offenheit und Wertschätzung gegenüber anderen Perspektiven. Wobei das nicht heißen muss, dass wir jetzt alle die gleiche Meinung haben. Vielleicht werden wir Diversität als Chance begreifen können.

Wie können wir Ängste überwinden und wieder zu einem unbeschwerten Miteinander kommen?

Gerade wird das ganze Leben auf den Kopf gestellt. Das löst Stress aus, auch weil wir etablierte Automatismen adaptieren müssen. Die Menschen wissen nicht, was auf sie zukommt und wie lange dieser Zustand dauert. Das führt zu Stress und Ängsten. Evolutionär ist Stress eigentlich dafür da, dass wir in der Lage sind zu kämpfen oder zu fliehen. Das ist vielleicht der Grund, warum manche derzeit eher gereizt oder gar aggressiv sind. Es spricht einiges dafür, dass das jetzt ein Ausnahmezustand ist, der sich schon bald wieder beruhigen wird. Denken wir an Tschernobyl oder den Kalten Krieg. Das waren kollektive Krisen, die in den 80er Jahren für die Gesellschaft stark belastend waren. Heute sehen wir, dass die Angst, etwa vor der radioaktiven Wolke oder dem Supergau, uns in unserem Alltag kaum mehr begleitet.

Inwiefern wird sich der Alltag in Köln in nächster Zeit verändern?

Köln ist ja eine Stadt, die sehr durch Kultur und Ausgehen geprägt ist. Ich wohne und arbeite im Belgischen Viertel, da hat sich das Leben auf einen Schlag vollkommen verändert. Das ganze kulturelle und gastronomische Leben ist lahmgelegt. Gerade eine Großstadt wie Köln ist von solchen Beschränkungen extrem hart betroffen. Und das wird uns, gerade was Veranstaltungen betrifft, noch auf Monate begleiten. Wobei die Kölner ja auch pragmatisch und kreativ sind. Es gibt bereits viele spannende Kompensationsangebote.

In welcher Phase der Krise befinden wir uns? Was kommt noch auf uns zu?

Am Anfang stand eine Art Ignoranz: Das wird schon nicht so schlimm, so hart wird es uns nicht treffen. Als absehbar wurde, dass diese Krise ernst zu nehmen ist, waren viele verunsichert. Das hat zu einem gewissen Aufruhr und Unsicherheit geführt. Da sind dann die ganzen Hamsterkäufe gelaufen. Inzwischen akzeptieren wir die Situation mehr und mehr und erarbeiten konstruktive Lösungen.

Hamstern oder helfen: Es wird häufig gesagt, dass sich in der Krise der wahre Charakter der Menschen zeige.

Die Krise kehrt mitunter extreme Seiten aus dem Menschen raus. Das sehe ich aber nicht zwingend auf Personengruppen verteilt, sondern kann sich durchaus in ein und derselben Person zeigen. Wenn ich mich im Stress-Modus befinde, habe ich das Gefühl, ich muss das kontrollieren und bewältigen. Dann gebe ich dem Gefühl nach und kaufe — nehmen wir das Symbol der Krise — zwei Tonnen Klopapier. Das ist irrational, gibt aber ein Kontroll-Erlebnis. Gleichzeitig kann ich mich aber trotzdem um andere bemühen und Klopapier für den Nachbarn besorgen.

Medien als Informationsvermittler können Sicherheit geben, aber auch das Gegenteil bewirken. Wieviel Nachrichten konsumieren Sie und was empfehlen Sie?

Grundsätzlich gilt: Je mehr Aufklärung, je mehr Wissen, desto weniger Angst macht sich breit. Ich persönlich schaue die Öffentlich-Recht­lichen, lese überregionale Tages- und Wochenzeitungen und höre mir den Podcast mit Christian Drosten an. Damit fühle ich mich gut informiert. Das hängt natürlich stark von den jeweiligen Medien ab. Manche Formate tendieren eher zu reißerischer als zu objektiver Berichterstattung. Information ist für den Erkenntnisgewinn und Angstabbau wichtig, aber es macht keinen Sinn, den ganzen Tag vor dem Monitor zu hängen, sondern sich auch immer wieder bewusst auf andere Aspekte des Lebens zu konzentrieren.

PD Dr. Dr. Daniel Wagner ist Psychotherapeut und habilitiertes Mitglied der medizi­nischen Fakultät der Universität zu Köln. Er war langjähriger Leiter der Spezial­ambulanz für Menschen mit Angsterkrankungen und Mitglied des psychologischen Leitungsteams der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Köln. Seit 2014 hat er eine eigene Praxis im Belgischen Viertel und begleitet u.a. Leistungsträger aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Sport und Kultur.