Die neue Zeit - Köln in der Corona-Krise: »Stay at home« als Lebensgefahr

Wie sich Köln auf die erwartete Zunahme der häuslichen Gewalt vorbereitet

 

»Wir befürchten Schlimmstes«, sagt Claudia Schrimpf vom Verein »Frauen helfen Frauen«, der Träger der beiden autonomen Frauenhäuser in Köln ist. Die Mitarbeiter*innen gehen davon aus, dass die häusliche Gewalt während der Corona-Pandemie zunimmt. Bislang ist laut Polizei und Stadtverwaltung die Zahl der Hilferufe zwar noch nicht gestiegen, über die tatsächliche Situation der Frauen und Kinder sagt das jedoch wenig aus. Denn im Corona-Lockdown haben sie kaum Möglichkeiten, überhaupt Signale nach außen zu schicken. »Der Täter sitzt ja die ganze Zeit dabei und übt Kontrolle aus. Wie sollen sich die Frauen da überhaupt melden?« sagt Claudia Schrimpf. »Wir gehen davon aus, dass die Schutzgesuche zeitversetzt ansteigen.« Blickt man nach China und Italien hat sich die Befürchtung bereits bestätigt. Laut der chinesischen Frauenrechtlerin Feng Yuan sollen sich in Wuhan die Gewaltakte gegenüber Frauen sogar verdreifacht haben.

Stadt und Bund wollen im Zuge der Corona-Krise mehr Schutzplätze zur Verfügung stellen: Familienministerin Franziska Giffey (SPD) will mit dem Sozialschutz-Hilfspaket der Bundesregierung auch Frauenhäuser unterstützen; die Stadt Köln prüft derzeit eine kurzfristige Anmietung von Hotels oder Appartements. »Wir sind mit der Stadt in Kontakt und arbeiten an einem Notfallplan«, sagt Claudia Schrimpf vom Frauenhaus. Die Sozialarbeiterin spricht von einer guten Zusammenarbeit mit der Stadt in den vergangenen Wochen, verweist aber auf den ohnehin unzureichenden Personalschlüssel und die prekäre finanzielle Ausstattung: »Nur ein Dach über dem Kopf reicht nicht aus. Die Frauen und Kinder brauchen auch Beratung und Begleitung.«

In Köln könnte die Situation besonders dramatisch werden. Denn die beiden bestehenden Frauenhäuser sind auch jenseits des partiellen Corona-Lockdowns überfüllt. Jedes Jahr müssen die Einrichtungen rund 800 Frauen abweisen. Laut dem Bundeskriminalamt erleidet jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben physische Gewalt. Derzeit bieten die Frauenhäuser in Köln Platz für 20 Frauen und 26 Kinder. Seit Jahren machen Frauenrechtsorganisationen darauf aufmerksam, dass das Platzangebot völlig unzureichend ist. Ende 2019 hat sich der Rat für ein drittes Frauenhaus ausgesprochen, die Verwaltung wurde mit der Suche einer entsprechenden Immobilie beauftragt. Auch damit wäre Köln nach offi­ziellen Richtlinien noch immer unterversorgt: Der Europarat empfiehlt pro 7500 Einwohner*ìnnen einen Platz. Das wären für Köln mehr als 106 Plätze.

Experten sehen auch Kinder und Jugendliche durch die anhaltenden Kontaktsperren und die Kita- und Schulschließungen massiv gefährdet. Die Pädagogikprofessorin Maud Zitelmann von der Universität Frankfurt, die seit Jahren zu Jugendhilfe und Kinderschutz forscht, hat gemeinsam mit 99 anderen Wissenschaftler*innen einen Brandbrief mit dem Titel »Mehr Kinderschutz in der Corona-Pandemie« verfasst. Die Unterzeichner*innen fordern einen umfassenden Ausbau der sozialen Hilfen. Stattdessen beobachten sie in vielen Kommunen das Gegenteil: Der Kinderschutz wird vernachlässigt und Hilfen zurückgefahren.

Jugendhilfe und Kinderschutz ist in Deutschland Sache der Kommune, bundesweit zeigt sich ein Flickenteppich mit unterschiedlichen Lösungen. Auch Klaus-Peter Völlmecke, stellvertretender Leiter des Kölner Jugendamts, bangt um die Kinder und Jugendlichen in Köln. »Die meisten Sorgen bereiten uns Familien, die wir noch nicht identifiziert haben, zu denen wir noch keinen Zugang haben. Da haben wir jetzt keine Chance etwas mitzubekommen.« Sonst würden viele Meldungen über Schule, Kita oder Jugendzentren laufen — weil Lehrer*innen oder Erzieher*innen aufmerksam sind oder die Kinder sich ihnen anvertrauen. Weil all diese Warnsignale wegfallen, hat das Kölner Jugendamt Maßnahmen veranlasst: Es wurden zusätzliche Plätze in Inobhutnahme-Einrichtungen geschaffen, vermehrt Pflegefamilien gesucht, der Kontakt zu den betreuenden Familien bleibt über Telefone, gemeinsame Spaziergänge oder auch Hausbesuche bestehen. Zudem hat die Stadt die Notbetreuung in Kitas und Schulen nicht nur für Eltern aus systemrelevanten Berufen geöffnet, sondern auch für gefährdete Kinder — wie es auch die Unterzeichner*innen des Brandbriefs gefordert haben. »Ich finde, wir haben uns ganz gut gewappnet«, sagt Völlmecke. Die Angst um das Wohl der Kinder bleibt dennoch: »Wir wissen nicht, wie viele Kinder tatsächlich in Notsituationen sind.«

Helene Schneiderhahn ist als Sozialpädagogische Familienhilfe beim Sozialdienst katholischer Frauen tätig. Sie ist eine der Mitarbeiter*innen, die auch während der Corona-Pandemie Familien aufsucht. »Im Gefährdungsbereich müssen wir natürlich weiter für die Familien da sein«, sagt Schneiderhahn. Sie verbringt zwei Stunden wöchentlich mit den betroffenen Familien. Dabei versucht sie, alle Themenbereiche abzuklopfen und das Chaos, das viele derzeit erleiden, zu sortieren. »Wir tun alles erdenklich Mögliche. Aber es ist eben nur ein kurzer Einblick. Wenn ich aus der Tür bin, weiß ich nicht, was dann geschieht«, sagt die Sozialpädagogin. Als sie in den ersten Wochen der Kontaktsperre durch manche Viertel gelaufen sei, schallte aus jedem zweiten Fenster lautes Gebrülle. Jetzt sei es ruhiger geworden, schildert sie ihre Beobachtungen. »Es ist fast schon gespenstisch ruhig. Das macht mir irgendwie auch Sorgen.«.