Im Niemandsland: »Berzah«

Gemeinsam divers

In Köln arbeiten viele junge Filmemacher mit Wurzeln in der Türkei — mit zunehmendem Erfolg

Ein treppensteigender Möbelpacker, ein in Höflichkeitsritualen gefangener Reisender, ein fiebriger Hotelgast ohne Schlaf und Ventilator. Deren Ercenks »Berzah« verknüpft drei von der Sommerhitze durchtränkte Episoden, die alle nicht ortsgebunden sind. Gedreht wurde in der Türkei, produziert in Köln, seine Premiere feiert der Film im NRW-Wettbewerb der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen (siehe S. 66). Ercenk ist Absolventin der Kunsthochschule für Medien (KHM), wo sich seit einigen Jahren eine Gruppe von aus der Türkei stammenden Filmschaffenden hervortut, die man unter dem zunehmend verstaubten Label »Deutschtürkisches Kino« nicht mehr zu fassen bekommt — zu unterschiedlich die erzählerischen Ansätze, die biografischen Hintergründe und Herkünfte.

Die ästhetische Spanne reicht vom Arthouse-Puristen über die mit dokumentarischem Material arbeitende Medienkünstlerin bis zum Tarantino-Adepten. Bilal Bahadirs brillante Satire »Mein Freund der Deutsche« (2016) setzt bei dem Anwerbeabkommen von 1961 an, und kehrt die Vorzeichen um: Der Gastarbeiter Mahmut will das ungeliebte Deutschland verlassen. Doch Herr Schmidt vom Arbeitsamt verweigert ihm die Abreise. Gefälschte Urkunden und Heimweh sind kein Ausreisegrund — der Türke muss bleiben! Der 1983 in Stadthagen bei Hannover geborene Bahadir schöpft für seinen Film aus dem Schatz des elterlichen Haushalts: türkische VHS-Kassetten und DVDs, angereichert um asiatische Martial-Arts- und Bollywood-Filme. Der Titel geht zurück auf ein Lied des linken Testosteron-Charismatikers Cem Karaca: Der türkische Superstar sang in seinen Exiljahren in Köln mit der Politrock-Band Die Kanaken provokativ-sarkastische Texte über das Dasein in der Fremde.

Eher behutsam hingegen verwebt die gebürtige Kölnerin Şirin Şimşek in »Hüzün« (2017) aktuelle Bezüge, biografische Erinnerungen und türkische Kulturgeschichte. Ihr Experimentalfilm führt die spezifische türkische Melancholie im Titel — und umkreist Bilder der früheren Touristenhochburg Side, eine römische Antikenstadt, deren Hotelanlagen infolge der türkischen Politik leer stehen.

Semih Korhan Güner ist der für Kulturschaffende unzuträglichen Atmosphäre in Istanbul nach Köln entflohen. »Boy« (2018), die Geschichte einer Mutprobe, könnte ebenso gut in der Türkei spielen wie in Deutschland. Der 12-jährige Martin wird von zwei Gleichaltrigen herausgefordert, ein Huhn aus dem Stall seines Großvaters zu opfern. Güner bebildert den inneren Konflikt in ruhigen, intensiven Einstellungen. Martin wird von Derin Akyaman gespielt: Güner meinte, er käme bei seinem ersten Dreh in Deutschland mit einem aus der Türkei stammenden Jungen besser zurecht — doch der sprach kaum Türkisch.

Auch für Halit Ruhat Yildiz ist der nationale und kulturelle Background eher unbedeutend; seine Filme verhandeln universelle moralische Fragen. In »Annunciation« (2016) wird Ali mit dem Kinderwunsch seiner Freundin Ceren konfrontiert. Daraufhin rückt er mit dem eigenen Wunsch heraus: Ceren soll die eingefrorenen Eizellen seiner an Krebs gestorbenen Verlobten austragen. »Warum müssen wir mit unseren Kindern genetisch verbunden sein?«, fragt der Filmemacher.

1987 im kurdisch geprägten Bingöl geboren, fand Yildiz während eines Ingenieurstudium zum Film — und dann aus Neugier nach Deutschland. »Mitose«, sein KHM-Abschlussfilm von 2018, führt zwei entfremdete Schwestern, von denen eine, Christina, in Izmir lebt, die andere, Eva, in Köln, durch den Tod des Vaters zusammen. Christina offenbart, dass das Leben ihrer Tochter durch Evas Spenderniere gerettet werden könnte. Eva, die infolge mehrerer Fehlgeburten selber keine Kinder mehr bekommen könnte, steht vor einer Entscheidung. Beide Kurzfilme liefen auf zahlreichen Festivals und im Fernsehen, »Annunciation« wurde für den Studenten-Oscar nominiert.

Zu der Gruppe der KHM-Absolventen gehört auch Mehmet Akif Büykatalay (vorgestellt in der Stadtrevue 06/19), dessen Debütspielfilm »Oray« (2019) unter anderem den Berlinale-Nachwuchspreis erhielt. Dieser Talentpool wirkt oftmals im Kollektiv: Yildiz hat in »Mein Freund der Deutsche« die Hauptrolle gespielt und auch in »Berzah« mitgespielt, Büyükatalay war bei »Annunciation« und mehreren anderen Kurzfilmen Regieassistent, Bahadir assistierte wiederum bei »Oray«.

Ein Jahr bevor sich das deutschtürkische Anwerbeabkommen zum sechzigsten Mal jährt, stellt sich die Frage, ob diese Vielfalt jenseits der Hochschule nachwirken kann. Semih Korhan Güner beendet gerade seinen Abschlussfilm über eine Gruppe Jugendlicher im Erotikkino, Bahadir bereitet seinen Debütlangfilm vor, der in jenem Unterschichtsmilieu spielen wird, das er so gut kennt. Yildiz’ nächster Kurzfilm »Eigengrau« stellt Fragen nach Wahrheit und Lüge im Umfeld eines Filmdrehs.

Mehrere dieser Projekte werden von der von Büyükatalay und Claus Reichel gegründeten Produktionsfirma Filmfaust realisiert. Der Schritt in die Filmproduktion und das solidarische Netzwerken eröffnen die Chance, die gesellschaftliche und mediale Blickerweiterung zu gestalten. Ruhat Yildiz zieht einen interessanten Vergleich: »Wie viele der jüngsten US-Oscargewinner haben mexikanische Wurzeln? Alfonso Cuarón, Guillermo del Toro, Alejandro Iñárritu — irgendwann wird der Blick von außen zum Blick von innen.«


»Berzah« — Stream auf der Seite der Internationalen Kurzfilmtage
Oberhausen: kurzfilmtage.de

»Mein Freund der Deutsche« —
Gratis­-Stream auf Vimeo

»Oray« — Gratis-Stream in der
Mediathek der Bundeszentrale für
politische Bildung: bpb.de