Hunger nach Wirklichkeit
In Krisen wie dieser blitzt vorübergehend die alte Einsicht auf, dass wir das gemeinsame Wirtschaften und Leben allemal sinnvoller, gerechter und umweltverträglicher organisieren könnten. Wie das konkret umzusetzen wäre, lässt sich nicht aus der Vergangenheit lernen, jedenfalls nicht aus der Filmgeschichte. Trotzdem mag es als fruchtbarer Impuls wirken, sich zwei historische Umbruchphasen in Erinnerung zu rufen, in denen das Kino und die ganze Welt revolutioniert zu werden schienen. Und sei es nur, damit diese Erinnerung dem alten idealistischen Trugschluss vorbeugt, dass bloßes »Umdenken« die Verwertungslogik des Kapitalismus außer Kraft setzen würde.
Im österreichischen Filmmuseum findet sich der weltweit größte Archivbestand zu einem einflussreichen Filmemacher, der 1896 als David Abelevič Kaufman in Białystok geboren wurde. Unter dem Künstlernamen Dziga Vertov (auch: Dsiga Wertow) war er in der Sowjetunion bis zu seinem Tod 1954 tätig. »Der Mann mit der Kamera« (1929) ist sein berühmtester Film.
Angefangen hatte er seine Filmarbeit allerdings bei zwei Wochenschauen, deren erhaltene Ausgaben, um weiteres Archivmaterial und erläuternde Essays ergänzt, alle online einsehbar sind. »Kinonedelja«, für deren Redaktion, Schnitt und teilweise auch Regie Vertov 1918 bis 1919 verantwortlich war, bietet interessante Eindrücke aus der frühen Sowjetunion. Filmisch reizvoll ist aber vor allem die 1922 bis 1925 erschienene »Kino-Pravda«.
Zum Einstieg empfiehlt sich die 18. Folge, die den politischen Impetus besonders überzeugend mit einer avantgardistischen Form vereinigt. In einem Abschnitt, der um eine »Oktoberisierung« (eine Art kommunistischer Babytaufe) kreist, kommt Vertov einer Verwirklichung jener hochfliegenden Ideen nahe, die er auch in filmtheoretischen Manifesten verbreitete: Der Schnitt entfaltet mitreißende Dynamik, und die wiederholte Überblendung des Taufnamens des Neugeborenen mit Bildern von Maschinen suggeriert jene futuristische Vereinigung von Mensch und Technik, von der viele Avantgardisten träumten.
Für die regelmäßige Zusammenarbeit mit dem Künstler Alexander Rodschenko bietet Nr. 14 das prägnanteste Beispiel, deren Zwischentitel der berühmte Konstruktivist als bewegliche Assemblagen gestaltete. Ein Teil von Nr. 16 bildet wiederum der allererste erhaltene Kurzfilm Sergej Eisensteins. Und sowohl Vertov als auch sein Bruder, der Kameramann Mikhail Kaufman, treten schließlich in Nebenrollen einer inszenierten Rahmenhandlung von Nr. 8 auf — was verblüfft, weil der leidenschaftliche Dokumentarist Vertov eigentlich ein Verächter jeder Fiktion war. Neben der Vernarrtheit in Bewegung, die sich in häufigen Fahrt- und Flugaufnahmen äußert, ist ein durchgängiges Merkmal dieser kurzen Filme denn auch der Hunger nach Wirklichkeit, der vor allem in Straßenimpressionen spürbar ist.
Als im Mai 1968 Filmstudenten glaubten, die Revolution wäre nahe, nannten sie die vorübergehend besetzte Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin bezeichnenderweise in »Dsiga-Wertow-Akademie« um. Das bedeutete für die 1966 gegründete Filmschule den Kulminationspunkt der Politisierung — bald darauf wurden 18 Studierende rausgeschmissen. Zuvor waren jedoch vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges und der Notstandsgesetze einige der politisch und ästhetisch gewagtesten Kurzfilme entstanden, die die deutsche Filmgeschichte vorweisen kann. Davon hat die DFFB, neben allerlei späteren Produktionen, anderthalb Dutzend online verfügbar gemacht.
Darunter sind drei gleichermaßen interessante Filme von Harun Farocki, der von den 18 »relegierten« Studierenden später, neben Hartmut Bitomsky, das größte Renommee als Filmemacher erreichen sollte. (Zum ersten Studentenjahrgang gehörte auch Wolfgang Petersen, der international sogar noch prominenter werden sollte, aber offenbar nicht einmal in jungen Jahren an Weltveränderung interessiert war.) Ein weiterer Name ist hingegen vor allem im Zusammenhang mit der RAF in Erinnerung geblieben: Holger Meins, der 1974 als Gefängnisinsasse bei einem Hungerstreik starb. Sein »Oskar Langenfeld. 12 mal« ist einer der ersten DFFB-Filme, ein sprödes, betont unvermitteltes Porträt eines alten Mannes, der in einem Obdachlosenwohnheim lebte, in dem Meins sich zur Recherche eingemietet hatte.
Noch subjektiver ist der Ansatz von Skip Norman, einem afroamerikanischen Studenten, der in seiner Amiri-Baraka-Adaption »Blues People« die Verknüpfung von Rassismus und sexueller Mystifikation thematisiert, indem er nackt vor der Kamera auftritt. Ähnliches gilt für »Subjektitüde«, eine hinreißende Miniatur der feministischen Pionierin Helke Sander, die einer kurzen Begegnung zwischen einer Frau und zwei Männern durch ihren eigenen Off-Kommentar launigen Eigensinn verleiht.
Dass die Strategie politischer Gewalt in eine Sackgasse führen würde, deutet sich in »3000 Häuser« unterschwellig an: Hartmut Bitomskys Film schwankt vieldeutig zwischen Verspieltheit und Abstraktion, wobei der dünne Plot von einem geplanten Überfall bestimmt wird, dessen Realisierung bezeichnenderweise an Spannungen zwischen den jungen Protagonisten scheitert. »Unsere Steine« suggeriert dagegen die Legitimität von Gewalt, wenn die Montage Pflastersteine und andere potenzielle Wurfgeschosse mit Fliegerbomben kontrastiert, deren Einsatz auf Bildern aus dem Vietnamkrieg zu sehen ist. Eine berühmte Textstelle von Engels, die Regisseur Ulrich Knaudt eine studentische Aktivistin vorlesen lässt, stellt allerdings zweifelsfrei klar, dass Barrikadenkämpfe 1968 längst aussichtslos waren.
vertov.filmmuseum.at
dffb-archiv.de