Die sachliche Schönheit der Modernität

Die SK Stiftung zeigt eine beein­druckende Retro­spektive der amerika­nischen Foto­grafin Berenice Abbot

Im Oktober 1922 reist eine junge, bildhübsche Amerikanerin aus Geld­mangel im Zug von Paris nach Berlin. Dort hofft sie, neue Aufträge zu finden. Sie macht einen Abstecher nach Köln, denn Rhein und Hohen­zollern­brücke findet sie »herrlich«. Später wird sie in einem Brief an einen Freund von der »wundervollsten alten Stadt mit der schönsten Kathedrale« berichten. Leider bleibt es nicht dabei, sie schreibt weiter: »Die Frauen sehen alles in allem ›hinterwäldlerisch‹ aus. Man muss wirklich manchmal ein Lachen unterdrücken. Ihnen fehlt der Chic«.

Die modebewusste Briefeschreiberin von damals ist keine Geringere als die spätere »Top-Fotografin« Berenice Abbott (1898–1991). Jetzt ist Abbotts Brief neben vielen anderen Publikationen und mehr als 170 Fotografien, allesamt Originalabzüge von internationalen Leihgebern, in der Photographischen Sammlung zu sehen. Vier Wochen lang hatte die Schau, fix und fertig eingerichtet, warten müssen, um nach dem Lockdown dann Anfang Mai endlich an den Start zu gehen.

Der Ausstellungsrundgang führt nach Sujets sortiert durch die drei großen Themen der Fotografin: Wissenschaft, Portrait und New York. Ihr Lang­zeit­projekt »Changing New York« bildet den Auftakt. Inspiriert hierzu wurde Abbott bei ihren fotografischen Anfängen in Paris. Dorthin siedelt sie 1921 über, um Bildhauerei zu studieren. Inmitten der künstlerischen Avant­garde lernt sie Man Ray kennen, der die ohne Vermögen auf sich gestellte junge Frau nach ihrem missglückten Versuch, in Berlin Fuß zu fassen, 1923 als seine Assistentin einstellt. Neben der Arbeit in der Dunkel­kammer lernt sie selbst zu fotografieren und beschließt, die Bildhauerei aufzugeben.

In Rays Studio trifft sie auf das Who-is-Who der Pariser Gesellschaft: Die Verlegerin Sylvia Beach, die Schriftstellerin Djuna Barnes, die Mäzenin Peggy Guggenheim und weitere einflussreiche Zeitgenossen, die sich zunehmend von Abbott portraitieren lassen. Vielfach vor neutralem Hintergrund abgelichtet, mit geübtem Blick für Licht und Komposition, gelingen Abbott charismatische Frauenporträts, aber auch Männer-Bildnisse wie u.a. von Ulysses-Autor James Joyce und seiner Familie.

Abbott macht Bekanntschaft mit dem Fotografen Eugène Atget, ist fasziniert von seiner strukturierten Art, das Paris der 20er Jahre mit der Kamera festzuhalten. Auch ihn portraitiert sie kurz vor seinem Tod. Abbott hat maßgeblich dazu beigetragen, dass dieser Pionier der Fotografie der Nachwelt erhalten blieb, indem sie seinen Nachlass erwarb und später an das Museum of Modern Art in New York verkaufte.

Zurück in New York (1929) plant Abbott, ähnlich wie ihr Vorbild, die Stadt zu dokumentieren. Ihre anfängliche Idee konzeptuell vorzugehen verwirft sie schnell. Zu aufregend sind die realen Momente des alltäglichen Geschehens. Nirgendwo sonst auf der Welt werden — trotz der Welt­wirt­schafts­krise Ende der 20er Jahre — so viele Wolkenkratzer gebaut wie in Boomtown Manhattan. Und Abbott scheut keine Mühen, diese mit schwerem Gerät zu besteigen, um auch von oben die umliegenden Häuser­schluchten abzulichten. So entstehen umwerfende Aufnahmen von Brücken, Baustellen (Rockefeller Center), Hochbahnen, später berühmten Gebäuden wie dem Iron Building. Ihre Aufnahmen der New Yorker Shops und der Armenviertel vervollständigen das Gesamtbild einer sich unaufhörlich wandelnden Metropole.

Nach diesem Projekt, das vier Jahre dauerte und bereits 1937 den Weg ins Museum fand, wendete sich Abbott einer weiteren Leidenschaft zu: der Wissenschaft. 1942 erfindet sie die »Supersight Camera«, eine Art Projektions­kamera für das Ablichten von Insekten, Blättern oder Federn. Schließlich macht sie Lehrbuchfotos für den physikalischen Unterricht und arbeitet für Science-Magazine. Der letzte Raum der Ausstellung ist diesen Aufnahmen von Seifenblasen, Pendelschwingungen sowie Strömungs- und Wellenbewegungen gewidmet.

Abbotts abschließendes Urteil über die deutschen Frauen aus dem eingangs erwähnten Brief soll hier nicht vorenthalten werden, hat es doch eine versöhnliche Note: Auf den zweiten Blick seien sie »unabhängiger und moderner als die französischen Frauen«. Aus der Feder einer Frau, die selbst — mit Bubikopf und Partnerin — ganz der Modernität verschrieben war, sei es als nonkonforme Persönlichkeit oder technikaffine Fotografin, klingt das fast schon wie eine Liebeserklärung.

»Berenice Abbott. Portraits of Modernity«
Photographische Sammlung der SK Stiftung, Im Mediapark 7
täglich 14-19 Uhr (außer Mi), bis 12.7.
photographie-sk-kultur.de
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