Keine Schule für alle: Unterricht in der Corona-Krise

Die vergessenen Kinder

Schüler*innen mit sonder­päda­go­gischem Förder­bedarf wird der Wieder­einstieg in die Schule erschwert

»Elias ist sehr emotional und umarmt seine Freunde gerne«, sagt Irene Meier (Namen geändert) über ihren Sohn. Er ist zehn Jahre alt, hat das Downsyndrom und besucht eine inklusive Schule in Bonn. Vor kurzem bekam Irene Meier einen Anruf von der Schulleitung. »Erst druckste sie herum. Dann kam sie zum Punkt: Sie traut Elias nicht zu, dass er sich an die Abstandsregeln hält.« Seit Wochen spielt Irene Meier mit Elias Tierarzt, damit er sich an die Maske gewöhnt. Mit einer 1,50 Meter langen Zeltstange spazieren sie durch die Gegend. »Mein Sohn kann sich sehr gut an Regeln halten, wenn man kreativ übt. Das ist ja genau das, was Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Schule lernen.« Es folgten weitere Telefonate mit der Schulleitung. »Sie versuchte alles, damit Elias zuhause bleibt. Sie rief sogar bei der Schulbegleiterin an, die voll hinter uns steht, um sie umzustimmen.« Letztendlich sei Elias in die Schule gegangen und alles habe gut geklappt.

Sandra Schmitts (Name geändert) Tochter Mia ist mehrfach behindert und wartet noch auf ihren erst Schultag nach dem Shutdown. Sie besucht die Heliosschule in Sülz. »Wir gelten als Vorzeige-Inklusionsschule. Es kommen Leute von überall, um sich das Konzept anzuschauen«, sagt Sandra Schmitt. Auch an sie sei die Schulleitung mit der dringlichen Bitte herangetreten, Mia zuhause zu lassen. »Die Schule ist mit dem Anspruch ›Eine Schule für alle‹ angetreten und jetzt werden Kinder aussortiert. Sie müssen auch für alle kämpfen«, fordert Schmitt. Mia kann nicht laufen, sie sitzt im Rollstuhl. Bislang war ihr Klassenzimmer in einem behindertengerechten Anbau. Nach dem Shutdown sollte die Klasse allerdings im ersten Stock eines Gebäudes unterrichtet werden — ohne Aufzug. »Warum macht man ein solches Konzept, wenn ein Rolli-Kind in der Klasse ist?«, fragt Schmitt. Sie ist selbstständig, ihr Mann seit der Corona-Pandemie in Kurzarbeit. »Ich muss arbeiten. Wir sind finanziell bedroht.« Ihre Tochter brauche 24 Stunden Aufmerksamkeit. »Ich bin leiderprobt. Aber jetzt bin ich so was von am Ende. Ich kann nicht mehr«, sagt Sandra Schmitt.

Seit zehn Wochen ersetzen Millionen Eltern in Deutschland die Lehrkräfte. Irene Meier und Sandra Schmitt sind noch dazu Therapeutin, Pflegekraft, Spielgefährtin und häufig einzige Ansprechpartnerin in der Isolation. Die Belastung der Familien ist enorm — dennoch sind sie bei der Debatte um die Öffnung der Schulen wochenlang nicht vorgekommen. »Erst wurden wir übersehen, jetzt bekommen wir Steine in den Weg gelegt«, sagt Eva Thoms von »mittendrin«, der Kölner Beratungsstelle für Inklusion. Mehrere Elternverbände aus NRW haben sich Mitte Mai mit einem offenen Brief an die Landesregierung gewandt und gegen den Ausschluss der Schüler*innen mit Förderbedarf protestiert. Sie warnen vor einer drohenden Bildungs­katastrophe und fordern einen Krisenstab, der Unterstützung für die betroffenen Familien organisiert.

»Es melden sich immer mehr Eltern bei uns, deren Kinder vom Schulbesuch abgehalten werden sollen«, sagt Thoms. Das gelte für den Gemeinsamen Unterricht und für Förderschulen. Auch von der Notbetreuung würden diese Kinder häufig ausgeschlossen, selbst wenn die Eltern in system­relevanten Berufen arbeiteten. Für großen Unmut sorgte bereits Mitte April ein interner Brief der GEW NRW an das Schulministerium, der der Stadt­revue vorliegt, mit der mehrfachen Bitte, dass alle Förderschulen geschlossen bleiben sollen. Als Grund wurde angeführt, dass Kinder mit sonder­­päda­­gogischem Unter­stützungs­­bedarf Hygiene- und Abstands­­regeln »nur unzuläng­lich bis gar nicht umsetzen« könnten. »Eine Unverschämt­heit«, kontert Thoms.

Die NRW-Landesregierung hat Ende April bekannt gegeben, dass gleiches Recht für alle gelte und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Wiederöffnung der Schulen einbezogen werden sollen. Diese Haltung komme bei vielen Schulleitungen aber offensichtlich nicht an, so Eva Thoms von »mittendrin«. Sie fordert eine stärkere Positionierung: »Ein Nebensatz in der 17. Schulmail reicht nicht aus. Schulministerin Gebauer muss jetzt deutlicher Stellung beziehen.«

Eva Thoms ärgert sich vor allem über das verquere Bild, das sich in den Köpfen festgesetzt habe. »Diese Kinder werden behandelt, als wären sie die größten Virenschleudern.« Vielmehr sei das Gegenteil der Fall: Aufgrund ihrer Beeinträchtigung lebten sie oftmals isoliert und hätten somit auch ein deutlich niedrigeres Ansteckungsrisiko. Die Debatten in den vergangenen Wochen hat Thoms mit Sorgen beobachtet: »Wenn es so weitergeht, wird die Inklusion um Jahrzehnte zurückgeworfen.«

Die Förderschulen mit den Schwerpunkten körperlich-motorischer und geistiger Entwicklung wurden bei der Öffnung bislang komplett zurück­gestellt, sie sollen voraussichtlich Ende Mai öffnen. Elisabeth Linge, Elternsprecherin der Kölner Förder­schulen, weiß, wie benachteiligt diese Kinder derzeit sind: »Die sozialen Kontakte unserer Kinder spielen sich in der Schule ab. Sie sind seit zehn Wochen komplett isoliert.« Nach den ersten Lockerungsmaßnahmen durften sich Kinder und Jugendliche wieder mit einem Freund oder einer Freundin mit Abstand treffen, Kinder mit Förderbedarf seien nicht mitgedacht worden. Ein Kind mit Behinderung und eine Begleitperson galten nicht als Einheit, sondern als zwei Personen — und wurden damit per Verordnung von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. »Zwei Kinder im Rollstuhl durften nicht nebeneinander geschoben werden. Das ist nicht nur absurd, sondern zutiefst diskrimi­nierend.«

Die Corona-Krise geht auch an der Stadtrevue nicht spurlos vorbei. Auch uns sind wichtige Einnahmen weggebrochen. Auf stadtrevue.de/support könnt ihr uns unterstützen. Danke!