Wo die Seele ihren Platz hat: Kate NV, Foto: Thomas Venker

Fragen stellen, Antworten verweigern

Kate NV kreiert auf ihrem neuen Album einen fantastisch-unendlichen »Room For The Moon«

»Ich liebe Moskau und mein kleines Appartement in der Stadt — mein Zimmer ist eine Kammer, in der meine Seele lebt.« In diesem kurzen Satz steckt viel von dem, was die Künstlerin Kate Shilonosova auszeichnet. Der 31-Jährigen gelingt es, in Details der Alltagswelt einzutauchen, die anderen verwehrt bleiben, und das dort Entdeckte mit kindlicher Euphorie und ohne falschen Coolness-Panzer sich anzueignen. Wer so offen und wißbegierig durch die Welt geht, der hat gelesen, geschaut und gehört, was andere vor einem als Spuren auf den Pfaden der Geschichte hinterlassen haben.

Mit leuchtenden Augen betont Kate Shilonosova den großen Einfluss, den die Moskauer Konzeptionalisten um Viktor Pivovarov, Ilya Kabakov und Erik Bulatov auf sie ausgeübt haben. Von Pivovarov stammt die zwischen Alice-im-Wonderland-Phantasien und Surrealismus positionierte Idee, dass ein Zimmer nicht einfach nur vier Wände hat, sondern sich darin Raum und Zeit ausdehnen. Er dekonstruierte in seinen Arbeiten ausgehend von introspektiven Beobachtungen den Alltag im real existierenden Sowjetischen Sozialismus der 70er und 80er Jahre mit viel Ironie und dunklen Humor.

»Mein Zimmer mag schmal sein, aber zugleich ist es endlos groß«, fährt Shilonosova fort in der Beschreibung des für die Genese ihrer Musik so wichtigen Orts. Auch die zehn Songs auf »Room For The Moon«, ihrem dritten Soloalbum unter dem Imprint Kate NV sind größtenteils hier entstanden. Frühere Ansätze, japanischer Pop und elektronischer Minimalismus, finden auf dem neuen Album neben freier Improvisation und Free Folk in einem soft-dialektischen Prozess zusammen. Shilonosova operiert nicht mit Gegensätzen, sondern formt die unterschiedlichen künstlerischen Paradigmen und Praxen zu ihrem ganz eigenen, nicht real existierenden Weltbild. »Room For The Moon« eröffnet mit dem rhythmisch verspielten »Not Not Not«. Gerne hört man das Stück angesichts der grassierenden Corona-Apathie als Revitalisierungsimpuls. Bloß nicht sich mit runterreißen lassen vom omnipräsenten Pessimismus, sondern sich an den positiven Strängen des Lebens festhalten!

Sich mit Kate Shilonosova zu unterhalten ist eine anregende Angelegenheit. »Nur weil man ein Instrument hat, heißt das noch nicht, dass man es immer spielen muss«, nutzt sie eine Frage nach ihrer speziellen Klangarchitektur als Ausgang für eine längere Ausführung. »Am Anfang möchte man immer Sounds machen beim Spielen, aber darum geht es nicht. Man muss zuzuhören, was die anderen machen und was bereits da ist. Musik ist wie eine Kommunikation — da gibt es auch Pausen, in denen die anderen sprechen. Es ist kein Monolog, das habe ich durch Kooperationen und Orchestermitarbeit gelernt.« Von der Ausgestaltung des Zusammenspiels mit anderen gleitet sie weiter zur Beschäftigung mit den Klängen um sich herum: »Stille ist von oft unterschätzter Bedeutung. Als Musiker musst du sehr genau hinhören, was um dich herum an Klängen stattfindet. Wenn ich Zuhause bin, höre ich selten Musik, sondern verbringe die Zeit lieber in Stille — aber Stille ist nicht die Absenz von Sounds, man hört Autos in der Straße, Wind in den Bäumen, es gibt soviel zu entdecken. Das macht mich glücklich.«

Interessanterweise empfindet Shilonosova selbst ihre Musik als abstrakt. Damit meint sie jedoch weniger die konkrete Klangausgestaltung, sondern bezieht sich auf den inhaltlichen Überbau. »Ich produzierte keine Musik über die russische Realität. Ich existiere zwar als Künstlerin in den sozialen Umständen meines Heimatlandes — das sind Umstände, die niemand ignorieren kann —, aber die Art, wie ich Kunst kreiere, ist anders angelegt: Ich will keine Antworten geben, ich will Fragen stellen. Bei Kunst geht es meiner Ansicht darum, die Leute dazu zu bringen, sich selbst mit der Welt zu beschäftigen und so die für sie gültigen Antworten zu finden.«

An dieser Stelle springt Shilonosova assoziativ zurück in ihr Zimmer in Moskau und zu einem für das Interior zentralen Stuhl, der Anlass für den nächsten Gedanken ist. Sie berichtet welch großen Einfluss der kanadischen Pianisten Glenn Gould auf sie hatte. Von diesem ist überliefert, dass er nicht sich als Spieler seiner Musik empfand, sondern seinen Stuhl. »Ich mag die Idee, dass er glaubte, er sei lediglich ein Medium, das die Musik transportiert.«

Zum Schluss unseres Gesprächs betont sie, wie wichtig sie Pausen in ihrem künstlerischen Alltag empfinde »Man braucht sie, um sich wieder aufzufüllen. Man kann Musik nicht immer aus sich heraus zwingen, man muss sie fühlen.« Das passende Stück für die Corona-Pause hat sie uns allen als letztes auf »Room For The Moon« zur Verfügung gestellt: »Telefon«. Der Song ist eine kleine Pophymne an das Sprechen auf Distanz, der man die Einflüsse von japanischer Popmusik auf Shilonosova deutlich anhören kann. Einerseits was den geradezu magisch dahingleitende Bewusstseinsstrom des Songs angeht, getragen von der sanften Gesangslinie und unterfüttert vom wunderbar hell angeschlagenen Xylophon im Dialog mit der federnden Synthiemelodie. Andererseits aber auch in der Verwegenheit, mit der sie ein grollendes Saxofon und Störgeräusche poppig-experimentell einbringt.

Man möchte sofort in Moskau anrufen und fragen, wie man so einen Song schreiben kann. Die Antwort hat Kate Shilonosova aber bereits in Köln gegeben: »Musik macht, was sie möchte — ich gebe ihr nur den Raum, dass sie sich ohne Druck entfalten kann.«

Tonträger: Kate NV, »Room for the Moon« erscheint am 12.6. Rvng. Intl. (Cargo)