Nachbarschaft im Umbruch: »Nemesis« von Thomas Imbach

Die Welt aus einer Perspektive

Der Blick aus dem Fenster hat schon vor dem Corona-Lockdown viele Filmemacher inspiriert

Der 1958 verstorbene französische Filmkritiker und -theoretiker André Bazin hat das Kino als »Fenster zur Welt« beschrieben. Damit meinte er natürlich nicht wörtlich den Blick aus einem Gebäude auf die Umgebung. Das Bild sollte vielmehr deutlich machen, worin er die einzigartige Qualität des Mediums Film sah: dass es nämlich wie durch ein Fenster einen zwar vom Rahmen der Leinwand begrenzten, aber weitgehend unverfälschten Blick auf die Realität ermöglicht. Sein so selbstverständlich wirkender Satz war tatsächlich eine ideologische Setzung in der intellektuellen Debatte um das Kino. Bazin wollte den filmischen Realismus stärken gegen die Vertreter des Expressionismus, die die schwarze Rahmung des Kinobildes eher mit dem Rahmen um ein Gemälde verglichen, das der Regisseur einem Maler gleich nach seinen Vorstellungen gestaltet.

Die Corona-Krise mit ihren Quarantäne-Geboten und -Zwängen bietet einen guten Anlass, auf einen kleinen Korpus von Filmen zu blicken, die Bazins Diktum gewissermaßen wörtlich genommen haben und ausschließlich oder maßgeblich aus dem (eigenen) Fenster gefilmt wurden. Ein aktuelles Beispiel — wenn auch vor der Pandemie gefilmt — ist Thomas Imbachs »Nemesis«, der Ende April auf dem dieses Jahr online veranstalteten schweizerischen Dokumentarfilmfestival Cinéma du Réel seine Weltpremiere feierte. Imbach blickt — wie schon in seinem Film »Day Is Done« (2011) — mit der Kamera aus dem Fenster seines Züricher Ateliers. Er dokumentiert über sieben Jahre den Abriss der historischen Gebäude des Güterbahnhofs vis-à-vis und das Aufrichten eines neuen Komplexes. Gebaut wird ein riesiges Gefängnis mit angeschlossener Polizeiwache. Die Langzeitbeobachtung wird für Imbach Anlass zur Reflektion über Vergänglichkeit und Tod. Zudem kombiniert er den eigenen (freiwillig) festgesetzten Blick auf die entstehende Justizvollzugsanstalt mit protokollierten Gesprächen von Menschen, die in Abschiebehaft (Schweizerisch: »Ausschaffungshaft«) sitzen. So entsteht ein assoziatives Geflecht von Erfahrungen und Bildern rund um die Themen Zeit und Gefangenschaft — immer mal wieder aufgelockert durch Fensterblicke auf küssende Liebespaare, einen herumstreunenden Fuchs und ein Street-Food-Festival.

Einen noch längeren Zeitraum hat Józef Robakowski aus dem Fenster gefilmt. Von 1978 bis 1999 hat der polnische Filmemacher immer wieder die Kamera aus seiner Wohnung in einer Hochhaussiedlung in Lodz auf den Parkplatz und die umliegenden Straßen gehalten. Entstanden ist so der zwanzigminütige »From My Window«, in dem Robakowski nicht nur über seine Familie und die Nachbarn reflektiert. Nach und nach wird der Film auch zu einem Kommentar zu den weitreichenden politischen und sozialen Veränderungen in Polen zwischen Kommunismus und Kapitalismus.

Das Kunstjournal e-flux hat Robakowskis Film zusammen mit den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen online gestellt und andere Künstler und Filmemacher gebeten, einen »Videobrief« als Reaktion zu filmen. Den Anfang hat Emily Jacir mit »24 marzo 2020 (dalla mia finestra)« gemacht. Die palästinensische Künstlerin und Filmemacherin schickt einen kurzen Filmgruß aus Rom, wo sie während der Corona-Krise gestrandet ist. Immer wieder ruft sie ein leicht verzweifelt klingendes »Buongiorno« aus ihrem Fenster in eine bis auf einen einzelnen Fußgänger leere Gasse. Niemand antwortet. Jeden Freitag wollen während der Krise e-flux und Oberhausen ein weiteres Video veröffentlichen.

Die genannten Filme lassen sich im Genre des Essayfilms verorten, also Filme, die aus den üblichen Erzählmustern auch des dokumentarischen Kinos ausbrechen und auf intellektuelle und/oder radikal persönliche Weise assoziativ ein Thema umkreisen. Die visuelle Beschränkung des »Fensterfilms« bietet sich dafür an, in die Weiten der Innenwelten der Filmemacher abzutauchen. In diese Tradition lässt sich auch Chantal Akermans »Là-bas« (2006) einordnen, den die Belgierin, Tochter von Holocaust-Überlebenden, während einer Gastdozentur in Tel Aviv zu einem großen Teil in ihrem Apartment gedreht hat — wobei ihr Blick aus dem Fenster durch halbdurchlässige Sonnenschutzvorhänge eingeschränkt wird. Aus der an sie herangetragenen Idee, einen Film über Israel zu machen, wird ein persönlicher Essay, der unter anderem ihre Familiengeschichte mit einem Selbstmordattentat in der Nachbarschaft verwebt.

In »Jaurès« (2012) zeigt Filmemacher Vincent Dieutre Bilder, die er aus der Wohnung seines Geliebten Simon gefilmt hatte. Die Fenster geben den Blick auf die Gegend um die Pariser Metrostation frei, die seinem Film den Namen gegeben hat. Draußen sind unter anderem die provisorischen Schlafstätten zu sehen, die afghanische Flüchtlinge am Kanal Saint-Martin aufgeschlagen haben. Simon hilft als politischer Aktivist und Sozialarbeiter den Geflüchteten, doch der begrenzt die Zuwendungen an ­Vincent. Nach und nach entsteht ein essayistischer Liebesfilm, in dem Politisches und Privates sich durchdringen.

Der Fensterfilm hat verblüffende Parallelen zu einem komplett neuen filmischen Genre, das in den letzten Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt hat, dem so genannten »Desktopfilm«. In diesen Filmen ist ausschließlich das zu sehen, was sich auf dem Bildschirm eines Computers abspielt. Die reale Welt wird hier nicht mehr direkt dargestellt, sondern nur noch deren audiovisuelle Vermittlung via Skype, Youtube, Instagram, Facebook, Chatroulette und anderen Web-Seiten und Internet-Plattformen. Haben alle anderen Filmformen das Problem, dass sie unsere immer weiter digitalisierte Gegenwart nicht mehr abbilden können, zeigt der Desktopfilm radikal, was es heißt, dass unser Fenster zur Welt sich heute öffnet, wenn wir den Startknopf unseres Computers drücken.

Wie der »traditionelle« Fensterfilm bietet der Desktopfilm also den Blick aus einer fixen Perspektive auf ein Außen. Doch der ist variabler: Eine Vielzahl von Software-Fenstern lassen sich öffnen, heranholen, verkleinern, frei kombinieren. Gegenüber der eher kontemplativen traditionellen Form findet so eine radikale Verdichtung statt — immer noch unübertroffen ist in der Hinsicht Kevin B. Lees »Transformers: The Premake« (2014), eine brillante Analyse der modernen Blockbuster-Ökonomie geschult an den Filmen Harun Farockis. Man könnte auch sagen, Fensterfilm und Desktopfilm spiegeln unsere Erfahrung während der Corona-Krise: Entschleunigung des analogen Lebens bei unverminderter Beschleunigung unseres digitalen Alltags.

Gratis-Streams:

»From My Window« von Józef Robakowski und »24 marzo 2020 (dalla mia finestra)« von Emily Jacir: e-flux.com

»Transformers: The Premake«: vimeo.com/94101046