Theater auf Abstand? Szenen wie in »Sturm« werden dann nicht mehr zu sehen sein, Foto: Ingo Solms

Eine neue Dezenz

Anderthalb Meter Abstand und viele freie Plätze: Über eine neue Ästhetik im Theater

Eine Astronautin, eine barocke Dame mit Halskrause und Reifrock, ein Schauspieler im horizontalen Fischkostüm — diese Wesen aus dem Trailer des Oberhäuser Projekts »Haltung mit Abstand« könnten sich auch bald auf Kölns Bühnen tummeln. Hier wird jetzt emsig nachgemessen, nachgedacht und nachgeprüft: Wie geht Theater auf Abstand?

Am Abend des 7. Mai verkündet NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), dass die Theater ab dem 30. Mai wieder öffnen dürfen. Isabel Pfeiffer-Poensgen, Kulturministerin von NRW, konkretisierte: Es gehe um kleinere Theater, Veranstaltungen bis zu 100 Menschen. Unter Auflagen. Gerhard Seidel erfährt davon aus dem Internet. Euphorisch schreibt der Theaterleiter auf die Webseite des Freien Werkstatt Theaters: Wir spielen ab Juni wieder für Sie! Auf Aufbruchsstimmung folgt Ernüchterung: »So langsam ploppten dann die Probleme und Unklarheiten auf.« 1,5 Meter Abstand, aber zwei Plätze frei. Zwei freie Stühle messen im Zuschauerraum des kleinen Theaters aber gerade einen Meter. Also drei Stühle frei? Und wie lässt sich das dann finanzieren?

Nach aktuellen Berechnungen von Gerhard Seidel könnten nun nur noch circa 20 Personen eine Vorstellung besuchen. Das bedeutet enorme finanzielle Einbußen: Bis zu 7000 Euro weniger Einnahmen im Monat. »Wir wollen aber spielen«, sagt Gerhard Seidel entschlossen.

Mindereinnahmen belasten auch Christos Nicopoulos, Leiter des Horizont Theaters. Er ist in den letzten Wochen vor Gram komplett ergraut. Die geschlossenen Theater wecken schmerzliche Erinnerungen bei dem 65jährigen. Als Kind erlebte er die griechische Militärdiktatur. Zu Beginn waren auch damals die Theater zu. In seinem Publikumsraum bleiben mit Abstandsregeln noch acht Plätze übrig. »So wie andere Gottesdienst machen, machen wir Menschendienst« — ein Martyrium für das Theater und das Publikum.

Doch auch die Publikumserfahrung wird eine andere sein: Nur aus der Distanz hallt ein Lachen herüber, die körperliche Anspannung der Nebensitzerin ist auf anderthalb Meter Abstand nicht mehr spürbar, selbst bei maximaler Klatsch-Verve wird der Applaus nie tosen. Doch bevor es dazu überhaupt kommt, muss das Publikum Vertrauen fassen. Hier geht es nicht nur darum, ob die zuständigen Behörden ein Hygienekonzept abnehmen, sondern auch, ob die Zuschauer es annehmen.

Andere Häuser kapitulieren vor der Kurzfristigkeit der Öffnung. Das Kölner Künstler Theater sieht sich finanziell und künstlerisch nicht in der Lage ihr Theater im Juni aufzumachen. Denn die Abstandsregeln im Zuschauerraum und hinter der Bühne beim Umziehen sind eine Sache, die andere, wie ein Bühnenspiel auf Abstand überhaupt aussehen soll.

»Bei exzessiv sprechenden Personen ist ein Mindestabstand von sechs Metern einzuhalten,« sagt die Handlungshilfe. »Jedes Sprechen auf der Bühne ist ein exzessives Sprechen,« gibt Stefan Bachmann, Intendant des Kölner Schauspiels, zu bedenken. »Und wenn es wirklich bei den sechs Metern Abstand bleibt, ja, dann tun sich da trostlose Bilder auf.« Die Tore des Schauspiels öffnen wohl erst im September wieder für Zuschauer. Dennoch arbeitet das Team bereits auf Hochdruck an einem Hygienekonzept.

Eine geplante Premieren ist bereits aufgeschoben, weil sie unter Corona-Bedingungen nicht umsetzbar ist. Das Inszenierungskonzept wollte Ensemble und Publikum an Biertischen auf der Bühne versammeln. »Wir wollen schwitzende, verschlungene Leiber sehen, möglichst exzessiv und am besten noch ins Publikum gehend. Theater ist einfach das Gegenteil von Abstand«, sagt Intendant Stefan Bachmann.

Ist die Abstandsperformance dann überhaupt Theater? »Ein Theater zum Abgewöhnen« nennt Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne das im Deutschlandfunk. Stefan Bachmann ist optimistischer: »Der Kunst ist immer etwas eingefallen.« Schutzkleidung und Kostüme verschmelzen lassen, Bühnenbildkonstruktionen mit integriertem Spuckschutz, die Verstärkung gedämpfter Stimmen über Microports — er kann sich einiges vorstellen. »Mindestens ein Zuschauer und ein Schauspieler in der Gegenwart an einem Ort« — mit dieser Minimaldefinition von Theater verschafft sich Stefan Bachmann in Krisenzeiten Handlungsspielraum.

Am Theater im Bauturm haben sich der Dramaturg René Michaelsen und sein Team vorerst gegen die Re-Inszenierung bestehender Stücke entschieden. Alternativideen für Juni kursieren schon. Zum Beispiel das Theater als Illusionsmaschine zu nutzen: Sie kodieren die Hygienebestimmungen um und finden einen Grund für die Auflagen jenseits der grassierenden Pandemie. »Die Zuschauer könnten Corona sogar vergessen«, erläutert der Dramaturg Michaelsen die noch rohe Konzeptidee. Darüber hinaus überlegen sie einen »ästhetischen Schnellschuss aus der Hüfte« abzufeuern. Mit einem Stoff, der den Ausnahmezustand behandelt, einen Abend gestalten — ganz ohne Endgültigkeitsanspruch.

»Schnellschüsse« werden wohl die meisten Inszenierungen, die im Juni auf den kleinen Kölner Bühnen zu sehen sind. Laut knallen werden sie wahrscheinlich nicht: Sie dürfen es nicht. Es wird gedämpfter und dezenter zugehen — auch wenn die großen Bühnen im September wieder ihre Tore öffnen.