Allgegenwärtige Scham: Inès Bayard, Foto: © Deborah Morier

Die Scham des Schwei­gens, das Schweigen der Scham

Inès Bayard schreibt über die Folgen sexueller Gewalt

Die Scham beginnt oft bereits mit einem Blick — dem eigenen Anblick oder den Blicken anderer, die den eigenen Körper zum Objekt ihrer Begierden machen. Für Marie, der Protagonistin in Inès Bayards Debüt­roman »Scham«, werden diese Blicke nach einer Vergewal­tigung zur unendlichen Qual einer vor Ekel verzerrten Körperlichkeit: »Die Scham vor dem Körper, der nicht perfekt, nicht rein ist, der von der allgemeinen Moral missbilligt wird.«

In ihrem Roman erzählt die französische Autorin die Geschichte einer Gepeinigten, die selbst zur Täterin wird. Marie ist Anfang 30, Vermögensberaterin und lebt mit ihrem erfolgreichen Anwaltsgatten Laurent in einem schicken Viertel von Paris. Die homogene Fassade ihres Daseins zerbricht, als sie eines Abends von ihrem Vorgesetzen vergewaltigt wird. Marie schweigt und wird schwanger. In der festen Überzeugung, dass es das Kind ihres Vergewaltigers ist, bringt sie ihren Sohn Thomas zur Welt. Die Mutterschaft wird für sie nicht zum verklärten Ideal ihrer Weiblichkeit, sondern zur Schlinge ihres körperlichen und seelischen Martyriums: »Marie war Mutter. Eine Nichtsnutzin. Ein Bauch, eine Vagina, aber sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, eine Frau zu sein.«

Die Thematisierung von Mutterschaft und Sexualität ist im Roman genauso essentiell wie die patriarchale Ausübung von Macht auf den weiblichen Körper. Den ehelichen Beischlaf erlebt die Pro­tagonistin als zweite Vergewaltigung; während der Penetration ihres Mannes erhellt sich ihr plötzlich Elfriede Jelineks Vergleich mit dem Verrichten des Geschäfts in einer Klomuschel. Das Gefühl der Scham ist dabei allgegenwärtig, genauso wie seine Konsequenzen: die Frage nach der Schuld und die Ohnmacht der Sprache. Das Verschweigen, das die Opfer sowie seine Angehörigen gleichermaßen befällt, wird im Roman zum mörderischen Verhängnis. Als Marie vom heimlichen Vaterschaftstest ihres Mannes erfährt, fasst sie — aus Angst vor einer erneuten Demütigung — den Entschluss, sich und ihre Familie zu vergiften.

Indem Bayard die Mordtat bereits im ersten Kapitel vorweg nimmt, wird der Leser von Beginn an mit dem beklemmenden Gefühl einer entgleisenden Körperlichkeit konfrontiert: »Ich glaube, dass eine Frau erst dann vollständig frei ist, wenn nicht mehr ihr Verstand die Entscheidungen trifft, sondern ihr Körper.« Bayard gelingt mit »Scham« ein erschütterndes Debüt, dessen Sprache gesellschaftliche Tabus mit derselben Brutalität offenlegt, wie die sexuelle Gewalt die Vulnerabilität ihrer Opfer.

Ines Bayard: »Scham«, Paul Zsolnay Verlag, 224 Seiten, 22 Euro