Geschichte von unten: »Zigeuner in Duisburg« von Rainer Komers

Die Wüste belebt

Das Filmbüro NW feiert 40. Geburtstag — mit einem aufschlussreichen Kurzfilmprogramm bei den Kölner Kino Nächten

Ob er schon mal von den Oberhausener Kurzfilmtagen gehört habe, fragt der Filmemacher. »Von wat?«, antwortet Nachbar Karl. Was er sich denn denke, wenn er Kurzfilmtage Oberhausen höre, versucht der Filmemacher es noch einmal: »Da denk’ ich mir gar nix bei (…) Im Fernsehen hat man Kino genug«. Der Filmemacher heißt Christoph Hübner, der Gesprächs­partner: Karl Golomb, der ehemalige Bergarbeiter der Bottroper Zeche Prosper/Ebel ist seit langer Zeit schon invalide durch einen Arbeitsunfall. Hübners Kurzfilm »Grüße vom Nachbarn Karl« (1980), Teil seines monumentalen »Prosper/Ebel«-Zyklus, besteht hauptsächlich aus einem Interview mit Golomb. Zum Kino fällt dem alten Mann nicht viel ein, er redet lieber über sein erstes Radio oder das Fernsehen. Er guckt gern naturwissenschaftliche Programme, doch die kommen zur falschen Sendezeit. »Alles machen sie verkehrt«, so Golombs Fazit.

»Grüße vom Nachbarn Karl« wird gezeigt bei den »Kölner Kino Nächten«, im Rahmen eines Jubiläumsprogramms mit vier Kurzfilmen von Gründungsmitgliedern des Filmbüro NW. Vor vierzig Jahren, am 12. Mai 1980 begann die Geschichte des Vereins in der Stadthalle von Mülheim an der Ruhr. Einen Monat zuvor hatte Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) bei den Kurzfilmtagen Oberhausen erklärt, er wolle NRW an die Spitze der kulturellen Filmförderung in Deutschland befördern. Das bevölkerungs­reichste Bundesland war damals alles andere als ein Standort der Filmindustrie. Zwar gab es den WDR in Köln, aber die Zentren der Kinoproduktion waren traditionell Berlin und München. Die Szene in NRW war klein und versprengt. »Die Wüste lebt« wurde selbstironisch zum Motto des Filmbüros.

Das Land NRW sollte seine eigenen Bilder erhalten

Es ging darum, Filmkultur »in der Fläche etablieren«, erinnert sich Gründungsmitglied Hübner in einem Text, den er zum Jubiläum verfasst hat. Das Filmbüro sollte »dem Land seine Bilder geben«, schreibt Hübner. »Wir wollten Geschichten von hier und heute mit den Mitteln des Kinos erzählen«. Der Film »Grüße vom Nachbarn Karl« erfüllt dieses selbstgesteckte Ziel, so bescheiden er auch wirkt: Er besteht lediglich aus dem Interview und ein paar Impressionen aus der Straße, in der Golomb wohnt. Hübner macht Kino, weil er auf das vertraut, was seine Kamera aufgenommen hat. Es gibt keine übergeordnete Autorität in Form eines Voice-over-Kommentars. Auf Augenhöhe treffen hier Kultur- und Klassenunterschiede aufei­nander. Es bleibt Raum, um selbst zu denken.

Der politische Impetus ist klar. Hübner will »Geschichte von unten« schreiben, so das damals populäre Schlagwort — die Schwierigkeiten dabei verdeckt der Film nicht. Auch der Mülheimer Filmemacher Rainer Komers gibt in seinem für das Jubiläumsprogramm ausgewählten Film Menschen eine Stimme, die bis dato im deutschen Film kaum gehört wurden. Sein 1980 in Oberhausen mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichneter »Zigeuner in Duisburg« zeigt die Lebensbedingungen von Sinti in Duisburg-Meiderich. Der Film dokumentiert ihre Vertreibung durch die Stadt, wobei auch der Wohnwagen der KZ-Überlebenden Antonia Mettbach zerstört wird.

Dietrich Schubert dagegen, der sich wie kein anderer Filmemacher in NRW Verdienste um die filmische Aufarbeitung der NS-Verbrechen und die Rehabilitierung der Kölner Edelweißpiraten erworben hat, stellt in »Ein Film über den dichter werdenden Nebel im deutschen Winterwald« (1981) seine eigene Überwachung durch die Polizei in den Mittelpunkt. Dem »Politfilmer«, wie er in einem Polizeibericht bezeichnet wird, wurde ein Verfahren wegen »Verdacht verräterischer Beziehungen« angehängt, das selbst nach seinem Freispruch in den Akten mit dem Vermerk »Ausgang nicht bekannt« geführt wurde. Bloß ein amtlicher Fehler oder ein Blankoschein für dauerhafte Ermittlungen gegen ihn?

Schubert hat — seit 1976 in Zusammenarbeit mit seiner Frau Katharina — wie kaum ein anderer Dokumentarfilmer immer wieder in den Regionen Nordrhein-Westfalens gedreht: in der Eifel, die zu seiner Heimat wurde, aber auch an seinem langjährigen Wohnort Köln sowie im Ruhrgebiet.

Die gescheiterte Utopie

Filmkultur in der Fläche zu etablieren, gehöre allerdings zu den »gestrandeten Utopien« des Filmbüros, gibt Hübner in seinem durchaus kritischen Text zum Jubiläum zu. Konzentriert habe sich fast alles auf Köln, wohin auch das Filmbüro Ende 2008 von Mülheim an der Ruhr gezogen ist. Die übrigen Regionen in NRW sind abgehängt, meint Hübner. Er beklagt zudem eine »Normierung der filmischen Haltung«. Das Filmbüro hatte sich zu Beginn auf die Fahnen geschrieben, Spielfilm, Dokumentarfilm und Experimentalfilm gleichberechtigt nebeneinander zu vertreten und fördern — gerade der Experimentalfilm aber steht heute kaum mehr im Fokus. Ein schönes Beispiel für nicht-normiertes Filmemachen von einer der Gründungsmitglieder des Filmbüros ist »Yüm Yüm« (1967) von Dore O. Während die anderen drei Filme des Jubiläumsabends den bisweilen etwas spröden politischen Geist der späten 70er und frühen 80er Jahre einfangen, spiegelt »Yüm Yüm« noch ganz die spielerisch-lustvolle Herangehensweise der Hippiezeit: Die Regisseurin selber schaukelt während des gesamten Films vor einem gemalten riesigen Phallus auf und ab. Schnitt und Musik verdichten die Bewegungen zu einer ekstatischen Choreografie.

Die Gleichbehandlung der ganzen Breite filmischer Formen in der Frühphase des Filmbüros war gute linke egalitäre Praxis – aber auch den wenig entwickelten Strukturen im Bundesland geschuldet. Know-how und Geld für große Spielfilmproduktionen waren kaum vorhanden. Dass das Filmbüro dabei half, jene professionellen Bedingungen zu schaffen, die die Hierarchien mit sich bringen, gegen die die Gründungsgeneration in ihren Filmen und ihrem Leben immer gekämpft haben — das ist die Ironie der Geschichte des Filmbüros, aber auch vieler anderer ähnlicher Ini­tiativen.

Das Filmbüro berät bis heute Filmemacher aus NRW, vertritt seine mehr als zweihundert Mitglieder gegenüber der Politik und veranstaltet Symposien, Masterclasses und Filmvorführungen. Die von einer vom Filmbüro bestimmten Jury vergebenen Fördergelder — inflationsbereinigt ungefähr auf dem Niveau vom Anfang der 80er Jahre — kommen mittlerweile allerdings aus dem im Vergleich riesigen Etat der der 1991 gegründeten Film- und Medienstiftung NRW. Dass damit immer noch Filme entstehen, die formalem Wagemut verpflichtet sind, lässt sich bei den Kölner Kino Nächten an »Orphea« überprüfen: Alexander Kluges und Khavn de la Cruz’ Re-Imagination des Orpheus-Mythos mag zwar bis auf die Produktionsfirma wenig mit NRW zu tun haben. Aber mit anarchischem Geist kümmert der Film sich wenig um die Grenzen von Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm.

Kurzfilmprogramm zum 40. Bestehen des Filmbüro NW:
Fr 10.7., Filmforum im Museum Ludwig, 21:30 Uhr

Kölner Kino Nächte: Do 9.7.–So 12.7.,
insgesamt fünfzig Filme in verschiedenen Kölner Kinos für 18 Euro.

Weitere Infos auf koelner-kino-naechte.de