»Einige Präventionsprojekte schaden mehr als sie helfen«: Ursula Enders, Mitgründerin und Geschäftsführerin von Zartbitter

»Wir müssen das lautlose Nein hören«

Ursula Enders von der Kontaktstelle Zartbitter über sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Corona-Krise

Frau Enders, die TU München hat Anfang Juni eine große Untersuchung veröffentlicht. Demnach erlebte während der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie jedes zehnte Kind Gewalt. Welche Erfahrungen hat Ihre Beratungsstelle in dieser Zeit gemacht?

Für Täter war es noch nie so einfach, verdeckt zu missbrauchen wie während des Corona-Shutdowns. Anfangs hatten wir keine Meldungen. Gerade das hat uns besorgt. Erst jetzt erreichen uns die ersten Beratungsfragen. Aber die meisten werden uns wohl mit mehrjähriger Verzögerung aufsuchen. Wir gehen davon aus, dass diese Kinder und Jugendlichen vorher schon in der Familie sexuelle Gewalt erlebt haben, während der Pandemie das Ausmaß aber noch zugenommen hat. Sicherlich hat die Isolation die Schweigegebote der Täter nochmals verstärkt. Es wird lange dauern, ehe die Opfer sprechen können.

Laut der Münchner Studie haben nur wenige Betroffene telefonische Angebote genutzt. Was muss sich ändern?

Unsere größte Chance sind Workshops und offene Sprechstunden zu Kinderrechten in Schulen. Das war im Lockdown nicht möglich. Über das neue Kölner interaktive Jugendzentrum können wir auch in Kontakt mit Betroffenen kommen. Wir sind gerade dabei, noch mehr digitale Informationsmaterialien zu erstellen.

In letzter Zeit sind viele Verbrechen an Kindern bekannt geworden. Haben monströse Missbrauchsfälle wie in Lüdge, Münster oder Bergisch Gladbach zugenommen?

Uns sind Fälle mit einer vergleichbaren Brutalität lange bekannt. Das hat es schon in den 90er Jahren gegeben, nur ist heute die mediale Berichterstattung größer. Damals hat Zartbitter zum Beispiel kindliche Opfer von ritualisierter sexueller Gewalt im Rahmen satanischer Rituale begleitet. Die Kinder wurden missbraucht, auch prostituiert und gefilmt. Einige mussten die Videokassetten anschließend selbst ausliefern.

An den aktuellen Verbrechen waren auch Frauen beteiligt. Überrascht Sie das?

Nein. Frauen sind schon immer beteiligt gewesen. Aber das zu sagen, war ein gesellschaftliches Tabu. Gerade bei sehr jungen Kindern sind häufig Frauen die Zuhälterinnen. Wir hatten Anfang der 90er Jahre einen massiven Fall von sexuellem Missbrauch mit Beteiligung von Frauen in einer Kölner Kita. Der Erzieher wurde angeklagt, seine Kolleginnen nicht.

Wie kann es sein, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kitas, die aufgefallen sind, ihren Beruf weiter ausüben und Verbrechen begehen können wie zuletzt in Viersen?

Das ist ein strukturelles Defizit. Die Kita-Fachaufsichten der Landesjugendämter sind zahnlose Tiger. Sie haben kaum rechtliche Eingriffsmöglichkeiten. Es gibt auf Bundesebene endlich Bestrebungen, diese zu stärken. Zartbitter fordert das und eine unabhängige Ombudsstelle seit langem.

Welche Strukturen begünstigen Missbrauch in Institutionen?

In Einrich­tungen, die zum Tatort werden, mangelt es oft an Partizipation und einem kindgerechten Beschwerdemanagement. Grundsätzlich sind Institutionen ohne verbindliche Qualitätsstandards oder aber mit autoritären Strukturen gefährdet. Wir haben regelmäßig Fälle in Vereinen, Schulen, Kitas, auf Ferienfreizeiten — und auch bei kommerziellen Anbietern wie privaten Musikschulen, Nachhilfe-Einrichtungen, Fitness-Centern oder Babysitter-Diensten, was kaum in der Öffentlichkeit bekannt ist.

Wie steht es grundsätzlich um den Kinderschutz in Kölner Kitas?

Im Vergleich zu anderen Kommunen haben viele Kölner Kitas ein hohes fachliches Niveau, auch wenn die meisten unter Personalmangel leiden. Nach einem Vorfall in einer Kita Anfang des Jahrtausends war das Jugendamt der Stadt Köln bundesweit einer der ersten Träger, der ein fachlich fundiertes Schutzkonzept erstellt hat. In der Beratung von Zartbitter wird eher deutlich, dass bei kirchlichen Trägern, aber auch in kommerziell geführten Kitas die Standards nicht immer fachlichen Anforderungen entsprechen.

Wie erkennt man, dass Gewalt gegen Kinder geschieht? Wo fängt Gewalt an?

Die Sensibilität für die Problematik ist gestiegen. Oft wenden sich Menschen an Zartbitter, die ein komisches Gefühl oder auffällige Beobachtungen gemacht haben. Missbrauch beginnt meist ja nicht mit Vergewaltigung, sondern mit leisen Grenzverletzungen. Täter und Täterinnen testen, ob die Umwelt und wie das Kind reagiert. Deshalb ist nicht die Frage: Wo fängt Gewalt an, sondern: Wo fängt Grenzverletzung an? Wir arbeiten mit Materialien, die Spaß machen und entwerfen darin keine Horror­szenarien. Wenn ich Kindern Angst vor den seltenen Fremdtätern mache, dann reagieren sie in der Mehrzahl der Missbrauchsfälle widerstandsunfähiger. Daher schaden einige Präventionsprojekte mehr, als dass sie helfen.

Warum das?

Weil etwa Erwachsene mit Kindern Nein sagen üben oder sogar trainieren. Kinder verstummen in Missbrauchssituationen fast immer vor Schreck. Sie leiden dann unter doppelten Schuldgefühlen, da sie nicht — wie vorher eingeübt — Nein gesagt haben. Unser Ansatz ist deshalb: Jedes Kind hat seine eigene Art, Nein zu sagen. Ein Kind guckt böse, das andere macht sich steif oder läuft weg. Wir Erwachsene müssen lernen, die verschiedenen Neins wahrzunehmen, damit gerade das lautlose Nein gehört wird. Kein Kind kann sich allein schützen.

Zartbitter e.V., 1987 in Köln gegründet, zählt zu den ältesten Kontaktstellen gegen sexuellen Missbrauch in Deutschland. Mit den mehrfach ­preisgekrönten Präventionskonzepten und -materialien arbeiten zahlreiche Schulen und Kitas.