Die Koffer sind gepackt: François-Xavier Roth auf dem Sprung in die nächste Saison

Mit Indiana Jones und Bela Bartok auf Schatzsuche

Das Gürzenich Orchester ist wieder zurück. Wie hat Dirigent und Generalmusikdirektor François-Xavier Roth die Corona-Zwangspause genutzt?

4. Juni, das Wetter kippt, es wird regnerisch und kühl. Wir sind bei den Probebühnen der Stadt Köln ­an der Stolberger Straße. Von außen ein schmuckloser Bau, der einen prächtigen, technisch perfekt ausgestatteten Saal verbirgt. Hier probt das Gürzenich Orchester unter Maestro François-Xavier Roth und spielt einen Mozart-Zyklus ein. Roth, noch etwas erschöpft von den Aufnahmen am Vormittag, erwartet uns zum Interview. Sechs Tage zuvor hat das Orchester seinen Comeback-Auftritt in der Philharmonie gespielt — als erstes Sinfonie-Orchester in Deutschland. Alle sind, wenngleich noch ab­wartend, erleichtert. »Ein wunderbares Gefühl, wieder vor ein Publikum treten zu können«, findet Roth. Im Interview vibriert er schon wieder: »Musik ist ein Vivarium!«, ruft er aus.

Wie ist die aktuelle künstlerische Situation?

Viele Corona-Regeln widersprechen eigentlich dem gemeinsamen Musizieren. Wir müssen große Abstände zwischen den Musikern auf der Bühne und im Aufnahmestudio schaffen. Das ist sehr ungewöhnlich. Aber es zwingt, noch mal neu über Musik nachzudenken, sich umso mehr auf die Musik selbst zu konzentrieren. Wir arbeiten unter diesen schwierigen Bedingungen gerade an Mozart, und es gelingt, die Aufnahmen klingen sehr schön.

Verändert sich die musikalische Dynamik, wenn man weit auseinander sitzt? Welche Auswirkungen auf Ihre Praxis als Dirigent hat das?

Große Auswirkungen! Bislang habe ich die körperliche Nähe gebraucht, ich habe sie fast physisch gespürt. Die fehlende Nähe müssen wir jetzt alle kompensieren, wir brauchen eine andere Haltung, müssen noch konzentrierter sein, noch wacher, noch mehr on the edge.

Woran haben Sie während des Lockdowns gearbeitet? Was kann man da als Dirigent überhaupt tun?

Als ich nach Südfrankreich gegangen bin, wo ich mit meiner Familie lebe, habe ich viele Partituren eingepackt: Stücke, die ich in der nächsten ­Saison dirigieren werde, oder Par­tituren, die ich überhaupt noch entdecken möchte! Aber ehrlich gesagt … ich war dann viel in meinem Garten, habe Gemüse gezüchtet, Sport gemacht, das Leben mit meiner Familie genossen. Einfache Sachen! Ich habe das als Glück erlebt. Ich will nichts beschönigen, ich weiß, dass diese Krise und der Lockdown für viele Leute sehr bedrückend war. Sie haben recht: Ein Dirigent ist nichts ohne sein Orches­ter! Ich kann mich nicht alleine in die Küche stellen und dirigieren, das geht nicht. Aber ich konnte konzeptionell arbeiten, ich habe viel nachgedacht: Für wen spielen wir eigentlich? Was ist meine künstlerische Agenda?

Sie haben diese immer wieder als »Rekonstruktion« bezeichnet: Sie wollen zeigen, was war eigentlich so re­volutionär an, zum Beispiel, ­Beethoven.

Richtig. Er wollte mit seiner Musik die Leute zu seiner Zeit berühren, Politik spielt eine Rolle, seine Vision einer anderen Welt. Beethoven hat für seine Zeit geschrieben, seine Musik hat revolutionäre Gedanken transportiert. Aber er hat ganz bestimmt nicht daran gedacht, dass sie noch in 200 Jahren gespielt wird. Das muss ich in meiner Arbeit reflektieren. Ich will diese Zeitumstände herausarbeiten, will genau wissen, nach welchen Parametern hat Beethoven gearbeitet? Das ist eine Schatzsuche, wie bei Indiana Jones. Ich will das Lebendige dieser Musik zelebrieren, das ist meine moralische Verpflichtung gegenüber den Komponisten. Das geht nur über eine genaue Kenntnis der historischen Zusammenhänge.

Wie müssen wir uns das genau vorstellen?

Es ist wie die Restaurations­arbeit im Museum, wir legen die Farben frei, entfernen den Staub, bringen das Stück wieder zum Strahlen. Natürlich weiß ich nie genau, was sich ein Komponist bei etwas gedacht hat. Mozart kann ich nicht mehr fragen. Aber ich weiß, was für einen Schock, im positiven Sinne, seine Musik damals ausgelöst hat. Und diese Radikalität kann man auch heute auf die Bühne bringen. Radikalität ist für mich nicht negativ besetzt. Wir wollen erzählen, wie radikal es war, als Beethoven seine Klavierkonzerte und Sinfonien aufgeführt hat. Beethoven war sehr experimentierfreudig, an der Gegen­wart interessiert, offen für alle Neuerungen. Wir spielen viele Stücke, die sehr bekannt sind. Mein Ideal ist, dass die Zuhörer durch unsere Konzerte die Möglichkeit haben, die Stück noch mal zu entdecken.

Werfen wir einen Blick auf die nächste Saison, die hoffentlich stattfinden wird.

Wir verfolgen viele Linien. Dazu zählt auch die unserer eigenen Geschichte: Wir wollen uns Bela Bartok widmen, er hat sein Ballett »Der wunderbare Mandarin« 1926 mit dem Gürzenich Orchester aufgeführt, ein Meilenstein! Bartok zog in seiner alten ungarischen und rumänischen Heimat über die Dörfer und nahm alte Volkslieder auf. Er hat ein großes Archiv angelegt — und er hat es inte­griert in seine eigene Musik, die sehr kühn, sehr modern ist. Er hat sich mit der Alltagskultur der Leute auseinandergesetzt und daraus in seinen Kompositionen etwas Neues ge­macht. Eine großartige Synthese. Ein Melting Pot, und so heißt auch eine Komposition, die mein Freund Bernhard Gander aus Wien komponiert hat und ganz unterschiedliche Stile integriert, da sind Rapper dabei, Breakdancer, ein DJ. Die werden wir auch aufführen.

Gander und Bartok sind zwei Fix­pun­k­te der neuen Saison. Was ver­bin­det sie?

Unsere Fragen: Wie kann man unsere verschiedenen Kulturen teilen, wo können sie sich treffen? He­rausfinden, was sie gemeinsam haben? Das ist der Kern unserer Ar­beit. Als Orchester wollen wir mit Künstlern aus anderen Genres zu­­sam­menarbeiten, wollen auch mehr im Stadtraum präsent spielen, nicht nur in der Philharmonie. Wir sind ein Stadtorchester, ein Orchester für die Bürger. Wir sind aufmerk­sam für das, was um uns herum passiert.

Info: guerzenich-orchester.de

FXR erklärt Beethoven: guerzenich-orchester.de/de/beethovenhoeren