»Mich interessiert, wie im Persönlichen Allgemeines aufblitzt«: Isabelle Graw

Notizen im Halb­wachzustand

Buchveröffentlichung: Isabelle Graw gewährt Einblicke in ihr Seelenleben und die Kunstwelt

Auch nach 30 Jahren als Chefredakteurin bei Texte zur Kunst — gestartet in Köln, heute in Berlin — versucht Isabelle Graw immer in Be­we­gung zu bleiben. Als Gatekeeperin des internationalen Kunstgeschäfts — die TZK gelten spätestens seit ihrer Umstellung auf bilinguale Aus­gaben als weltweite Institution — beruft sie sich auch mit jahrzehntelanger Schreibpraxis auf die einfachen Tricks: Ihr neues Buch »In einer anderen Welt« fasst jene Notizen zusammen, die sie in den Jahren 2014–17 direkt nach dem Aufwachen verfasste.

Diese Praxis verleiht den Vignetten eine ungewohnte Direktheit, eine Nähe, die man sonst von Graw nicht kennt. Immerhin wird gegen sie und die Texte zur Kunst stets der Vorwurf der verkopften Akademisierung erhoben. Dem entgegen rücken auf den knapp 100 Seiten etwa der Tod des Vaters oder eine Trennung wiederholt in den Vordergrund. Hat das denn soviel mit Kunst zu tun? Ja, denn: »Mich interessiert dabei, wie im Persönlichen Allgemeines aufblitzt und wie umgekehrt Allgemeines durch das Persönliche gefiltert wird«, formuliert Graw im Vowort. Enttäuschen wird sie damit nicht.

Geschickt und souverän ge­­konnt verknüpft sie Lapalien mit den großen Veränderungen der Kunstszene und der Welt. Ein Rollkoffer wird durch eine spitze Bemerkung zum Kennzeichen der gesamten Kunstwelt und
um #metoo geht es auch. Verschränkungen mit dem Kultur- und Finanz-Jet-Set werden stets präsent gemacht. Graw analysiert beschwingt die Sitzordnung des Galerien-Dinners und demaskiert sie als neo-feudale Geste oder rückt einen Abend mit James Franco ins richtige Licht. Davor, danach und mittendrin finden sich sowohl explizite Auslassungen und Gedanken zur Entwicklung der Bildenden Kunst als auch Höchstpersönliches.

Die große Stärke des Buches bleibt, dass es an keiner Stelle in Befindlichkeitsliteratur kippt. Stattdessen nimmt Graw die Forderung nach dem Privaten, das politisch sein soll, ernst — auch die offenherzigste Geste hält genügend Intimes zurück und wahrt die Distanz.

Das alles ist auch deswegen so gut, weil das Buch selbst schon als Kommentar zu lesen ist: Künst­ler*innen-Biografien scheitern in der Regel am mangelhaften Aus­loten der Grenzlinie zwischen Mythos und Kritik, an der nötigen Distanz zur Sache. Doch Kritik, das zeigt dieses Buch eindrücklich, ist heute womöglich wichtiger denn je.

Isabelle Graw: »In einer anderen Welt. Notizen aus den Jahren 2014–2017«, Verlag edition cantz, Berlin 2020, 192 S., 26 Euro