Die Magie wirkt weiter

Ein Rundgang durch die Ehrenfelder Kinogeschichte

Fünfzehn Kinos gab es in Ehrenfeld im Jahr 1958 — mehr als heute in ganz Köln. Ihre Geschichte ist eng mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Veedels verschränkt, die Anzahl der Kinos schwankt entsprechend den Entwicklungen und Brüchen der vergangenen 110 Jahre: Industrialisierung der Kölner Vorstädte, zwei entsetzliche Kriege, Weltwirtschaftskrise, Trümmerjahre und Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Massenmobilität und Mediengesellschaft.

Die Anfänge reichen ins Milieu der Schausteller im frühen 20. Jahrhundert zurück. 1907 soll ein Josef Erpelding das Ehrenfelder Volkstheater eingerichtet haben, in dem »lebende Photographien« vorgeführt wurden. Zwei Jahre später entstand an der Venloer Straße 383 das Helios, ein Zelt, das ab 1910 durch Willi Böhme, einem frühen Kinopionier, in einen festen Bau umgewandelt wurde. Ein weiterer Entrepreneur, Albert Brodmaier, errichtete 1913 an der Venloer Straße 254 die Union-Lichtspiele, die 1932 von Woolworth aufgekauft und in ein Kaufhaus umgewandelt wurden. Ebenfalls 1913 entstand das Urania/Monopol des Herrn Smigersky.

Wer sich auf Spurensuche begibt, wer Kinogänger von damals befragt, ist überrascht über viele freundliche Begegnungen: Kino, so scheint es, öffnet die Herzen und weckt Erinnerungen an unbeschwerte Stunden in einer entbehrungsreichen Zeit. Schnell erhält man Zugang zu einem Gebäudeteil, zu Schuhkartons mit Filmzeitungen, Fotos und Zeitungsausschnitten. Die lebendigen Erinnerungen an das bewegte Kinoleben des Stadtteils Ehrenfeld reichen bis in die Trümmerjahre zurück.

Das Urania, durch einen Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg zerstört, öffnete als erstes wieder seinen Kinosaal: 200 Menschen fanden hier Platz. Verglichen mit den bis zu 2000 Zuschauer fassenden Palästen der Innenstadt war das Urania ein echtes Veedelskino. Die Lichtspielhäuser hatten mancherlei Engpässe zu bewältigen: Wer in der kalten Jahreszeit hineinwollte, musste neben dem Eintrittsgeld üblicherweise ein Brikett mitbringen, damit der Saal beheizt werden konnte. Ein typischer Kinoabend bestand aus Reklame für Ehrenfelder Geschäfte, dann Vorprogramme wie »Fox tönende Wochenschau«, Kulturfilme und Vorschauen auf neue Filme, schließlich der Hauptfilm. Bisweilen hielt der Kinobetreiber eine persönliche Ansprache, oder es gab Showeinlagen, die noch an die Ursprünge des Kinos im Jahrmarkt und dem Varieté erinnerten.

Bis Mitte der 50er Jahre stillten viele Heimatfilme den Wunsch des Publikums nach einer heilen Welt. Hans Albers’ Abenteuerfilme, Michael Curtiz’ Monumentalfilm »Sinuhe der Ägypter« oder die Walt-Disney-Produktion »20.000 Meilen unter dem Meer« ermöglichten Traumreisen, ergänzt um »Bambi« und »Pinocchio« oder Filme mit Shirley Temple. Bereits 1952 lief »Toxi« über die »Mischlingskinder« von deutschen Frauen und afroamerikanischen Besatzungssoldaten. Doch erst Ende der 50er Jahre kamen auch französische Filme, politischere Perspektiven und Kriegsthemen in die hiesigen Kinos.

Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg war Ehrenfeld von Industrie- und Gewerbe geprägt. In den Jahren des Wiederaufbaus wurde in den Kinos Zerstreuung gesucht. Die »Flimmerkiste«, wie man den Fernseher damals nannte, war bis Mitte der 50er Jahre eine Seltenheit in privaten Haushalten. Kino war noch begehrt, die Filmverleiher spielten ihre Top-Titel gleich in mehreren Häusern: Während im Leo-Kino die zweite Filmrolle eingelegt wurde, fuhr der Kurier die erste Rolle rasch ins nahe gelegene Rio. Doch mit zunehmendem Wohlstand wuchs die Konkurrenz der Kinos. Das neu erworbene Auto gestattete Spritztouren ins Grüne, und vom heimischen Fernseher lockten das Publikum nur noch die prachtvollen Kinopaläste der Innenstadt weg.

Die Kinobetreiber reagierten schon früh auf die neuen Ansprüche ihrer Gäste, unter anderem durch den Einsatz von Farbfilmen und Breitwandformaten. 1953 feierte »Das Gewand«, der erste Cinemascope-Film, seine Weltpremiere. Das Lenau-Kino in Neuehrenfeld war das erste Lichtspielhaus mit dem eindrucksvollen Breitwandformat. Hier lief etwa 1954 Otto Premingers »Fluss ohne Wiederkehr«, und hier hier kamen auch die frühen rotgrünen Pappbrillen zum Einsatz – die erste 3D-Welle erreichte zu dieser Zeit Deutschland. Derlei Spektakel halfen langfristig aber nicht. Irgendwann befanden sich die Ehrenfelder Lichtspielhäuser im Abseits. Die Kinos der Innenstadt hatten Vorzugsrechte. Die Zelluloid-Kopien erreichten dadurch Ehrenfeld nur noch in ausgemergeltem Zustand, der Filmriss war ein immer häufiger auftretendes Übel; auch die Filmtitel selbst waren nicht mehr die neuesten oder besten.

Doch die Krise erreichte auch die großen innerstädtischen Kinos. Sie versuchten daraufhin den Rückgang der Zuschauerzahlen mit der Aufteilung in mehrere »Schachtelkinos« zu kompensieren. Den kleineren Veedelskinos in Ehrenfeld war das nicht möglich. Um durchzuhalten, spielte man hier die vom Verleih vorgegebenen Blödel- und Prügelfilme der zweiten Garnitur. Zwischen 1959 und 1969 schlossen die meisten Ehrenfelder Lichtspielhäuser. Nur das Helios und das Urania hielten noch bis 1982 beziehungsweise 1984 durch. Danach gab es in Ehrenfeld bis zur Eröffnung des Cinenova im Jahr 1996 kein Kino mehr.

Aus den ehemaligen Lichtspielhäusern wurden nicht selten Supermärkte. Die breite, mehrteilige Türenfront, der Eingangs- und Kassenbereich, der große Saal und zudem die zugehörige Büroetage sowie eine rückseitige Anlieferzone — all das konnte man beibehalten. Das Lenau-Kino ist heute ein Rewe-Supermarkt, das frühere Union wurde ein Denn’s-Biomarkt, und im vormals prächtigen Primus-Palast (zwischenzeitlich hieß er Corona) an der Venloer Straße 312 befindet sich heute ein dm-Drogeriemarkt. Nach Schließung des Rio zog ein Supermarkt mit dem rätselhaften Namen »Zum bösen Wolf« ein. Zeittypisch hat das Haus Platenstraße 32 gleich mehrere Umnutzungen erlebt, selbst ein Boxring soll hier früher gewesen sein. Heute erinnert noch der Name der Kindertagesstätte eine Hausnummer weiter an alte Tage.

Vormalige Kinos wurden auch zu Sparkassen oder Banken, so an der Venloer Straße 658, ein gutes Stück hinter der Äußeren Kanalstraße. Dort gestaltet sich die Spurensuche nach den Lichtspielhäusern Bickendorfs schwierig. Die exakte Lage der drei Kinos auf der Venloer Straße — Astoria, Rochus und Kurbel — ist dort nicht ohne Weiteres dingfest zu machen. Von der Gaststätte Lindenblüte aus, Hausnummer 660, konnte man früher zum Astoria — »Et Astörche« — gehen. Das Gelände erreicht man heute durch eine Toreinfahrt einige Häuser weiter. Seit Februar wird das Gebäude kernsaniert und dem Wohnungsmarkt zugeführt. Die letzten Fundstücke aus dem Kino haben sich kulturell interessierte Bauarbeiter gesichert. Zuvor war hier der »Königreichssaal« der Zeugen Jehovas, danach hielt die »Evangelical Deliverance Ministry,« eine der vielen afrikanischen Freikirchen in Köln, ihre Bibelstunden und Gottesdienste ab.

Immer wieder scheint es, als wirke die Magie des Kinos in diesen Zeremonienstätten für Heiliges und Profanes in veränderter Form weiter. Götter und Dämonen, Masken und Statuen überraschen einen im ehemaligen Foyer des Leo – es ist ein privates Völkerkundemuseum, wo Mitbringsel von den Reisen des Vaters und des Großvaters von Klaus Kirsch ausgestellt sind. Schon das feuerrote Flammen-Emblem mit dem Schriftzug »Feu-ki« an der Hofzufahrt zur Leostraße wirkt exotisch, doch seltsam vertraut. »Feuerzeuge Kirsch« wurde unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von Paul Kirsch gegründet, der 1968 das ausrangierte Leo erstand und den Kinosaal in eine Lagerhalle für Genussmittel umfunktionierte.

Geradezu psychedelisch wirkt das vormalige Helios-Kino. Wer sich mit einer Spezialbrille ausgerüstet in die Dunkelheit der mit Schwarzlicht ausgeleuchteten Etagen begibt, meint ins Bodenlose zu fallen: Zwischen den mit Neonfarben aufgemalten und erstaunlich plastisch wirkenden Weltraumszenarien verlaufen Minigolfbahnen. Die Stätte des ersten Ehrenfelder Kinos – stadtauswärts hinter dem Gürtel auf der linken Seite – ist inzwischen eine Spielhalle, die mit der Zeit gehen musste und nun um eine 3-D-Minigolfanlage erweitert wurde. Von der ursprünglichen Einrichtung ist nur die Luke für den Projektor geblieben, heute nur noch ein Loch in der Wand, ein erstaunlich hartnäckiges und häufiges Relikt der Lichtspiel-Ära.

Unser Autor hat im Dezember 2019 die Fotoausstellung »Ehrenfelder Kinogeschichte(n)« kuratiert