Geografie als Schicksal: Bergsee in den chilenischen Anden

»Ein Dokumentarfilm ist wie eine Expedition«

Patricio Guzmán über den dritten Teil seiner Trilogie über die chilenische Topografie und das Erbe der Pinochet-Diktatur

Herr Guzmán, mit »Die Kordillere der Träume« haben Sie ihre beeindruckende Trilogie über ihr Heimatland Chile beendet. Was war die Motivation für dieses Mammut-Projekt?

Nach Filmen wie »Salvador Allende« oder »La casa Pinochet« wollte ich mit einer stärker subjektiven Perspektive arbeiten. Also bin ich selbst in die Atacama-Wüste und durch die Meereskanäle des chilenischen Südens gereist und habe die Kordilleren bestiegen. Im Film erzähle ich von meinen persönlichen Eindrücken dieser Landschaften. Das unterscheidet diese letzten drei Filme von denen davor — und macht sie intimer, aufrichtiger, vielleicht auch bewegender.

Woher kam die Idee, die Topografie des Landes so stark miteinzubeziehen?

Chile ist ein sehr einfaches Land, nicht wie Brasilien oder Kolumbien. Es ist ein viertausend Kilometer langer Strich. Auf der einen Seite ist das Gebirge, auf der anderen das Meer und das Land dazwischen. Der Norden ist oben, der Süden unten. Es gibt kein Osten oder West, es gibt den Berg und den Ozean. Du bewegst dich in einem Korridor, und dieser Korridor ist das, was unsere ziemlich sonderbare Persönlichkeit formt.

War von Anfang an eine Trilogie geplant?

Nach »Nostalgia de la luz« (über die Atacama-Wüste im Norden Chiles, Anm. d. Autorin) war mir klar, dass ich nun einen Film über den Süden machen muss. Danach wurde mir deutlich, dass es ja auch noch die Berge gibt, die einen Film verdienen. Und vielleicht wäre es eine Möglichkeit, einen vierten über die Unermesslichkeit des Ozeans zu drehen, der sich Tausende Kilometer vor der Küste erstreckt. Aber jetzt arbeite ich erstmal an einer anderen Sache, die damit nichts zu tun hat.

Erst noch einmal in die Vergangenheit: Wie kann man sich die Entwicklung eines solchen Projektes konkret vorstellen?

Wenn du einen Dokumentarfilm machst, ist das wie eine Expedition. Du kannst noch so viel nachdenken und Dinge aufschreiben, vorbereiten, mit deinem Produzenten sprechen: Am Ende bleibt es eine Reise, bei der man nicht weiß, was passieren wird, oft auch in eine Region, von der man nichts weiß. Du hast eine mehr oder weniger festgelegte Deadline für die Dreharbeiten. Aber ansonsten ist alles Improvisation, und das ist im künstlerischen Bereich das Beste, was einem passieren kann. Es ist wie im Jazz — oder wie im Leben.

Dann war der Dreh sicher auch manchmal so kompliziert wie das Leben?

Manchmal wendet sich auch alles gegen dich. Du bist allein mit deiner Kamera und dem Tontechniker. Und dann stehst du in der Landschaft und es passiert nichts. Im Spielfilm gibt es ein Drehbuch und einen Plan. Auch für einen Dokumentarfilm kann man ein Drehbuch und Planungen erstellen, aber wenn du einmal draußen vor Ort bist, zählt das alles nicht mehr.

Können Sie mir von besonders inspirierenden Momenten erzählen?

Als ich für »Der Perlmuttknopf« im Süden des Landes war, gab es eine Frau, die ganz plötzlich und unerwartet auftauchte. Eine indigene Kawesqar-Frau, die Erstaunliches erzählte über das Abenteuer ihres neunzig Jahre währenden Lebens. Diese Frau hat sich für immer in mein Gedächtnis eingeprägt. Und in »Nostalgia de la luz« werde ich nie die Frauen vergessen, die in der Wüste nach den Toten suchten (Opfer des Pinochet-Regimes, Anm. d. Autorin). Zwei Frauen inmitten dieser Ungeheuerlichkeit mit einer Schaufel auf der Suche im Sand auf einer gigantischen Fläche. Wie und woher haben sie die Kraft genommen, dort zu sein und zu graben? In »Die Kordillere der Träume« war mir zunächst nicht klar, was für eine außergewöhnliche Figur der Kameramann Pablo Salas ist, den ich interviewte. Als ich das erste Mal bei ihm war und er von all dem erzählte, was er getan hatte, fiel ich vom Stuhl. Er tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf — und du erkennst, dass er einen wahren Schatz hütet. So wurde er zu einem wirklich einzigartigen Protagonisten des Films.

Dieser Schatz ist sein enormes Archiv selbstgedrehter Bilder, die die Übergriffe verschiedener chilenischer Regierungen von Pinochet bis heute und den Widerstand dagegen zeigen. Hier knüpft auch ihr nächstes Projekt an, das sie vorhin ansprachen.

Mein nächster Film handelt von der Revolte, die im Moment in Chile stattfindet. Die zeigt eine enorme Unzufriedenheit der Gesellschaft angesichts ungelöster Probleme in den Bereichen Verkehr, Gesundheit und Sicherheit nach vielen Jahren scheinbaren Friedens. Das explodiert, ein riesiges und gewichtiges Thema, das mich an die Bilder von damals im Archiv von Pablo erinnert. Es ist eine Revolte gegen einen unfähigen Staat, der nicht weiß, wie er Probleme lösen soll. Im Augenblick wird diese Revolte von der Epidemie gestoppt. Doch danach wird sie weitergehen, bis die noch aus Pinochet-Zeiten stammende Verfassung geändert wird. Das ist das Thema des Films.

Patrizio Guzmán

Guzmán wurde 1941 in Santiago de Chile geboren. Er studierte an der Filmhochschule von Madrid mit dem Schwerpunkt Dokumentarfilm. 1973 begann er mit der Arbeit an der Film­trilogie »La batalla de Chile«, die Salvador Allendes Regierungszeit und deren jähes Ende dokumentiert. Nach Pinochets Militärputsch im September 1973 wurde auch Patricio Guzmán verhaftet und gefoltert. Erst 1979 konnte er die Tri­­logie im Exil fertigstellen. Nach seiner Frei­lassung ging er ins Exil, zunächst nach Kuba, später nach Spanien und Frankreich.