Unbelastet vom Kunstdiskurs: Schlingensief in den USA, © Filmgalerie451

Schlingensief

Bettina Böhler zeigt den Oberhausener als weitsichtigen Deutschland-Versteher

 

Dieses Jahr wäre Christoph Schlingensief 60 geworden. Sein früher Tod im Jahr 2010 scheint erst gestern gewesen zu sein. Doch die Welt, die er in seinen Arbeiten konfrontierte, hat sich in diesem Jahrzehnt politisch und medial stark verändert. Auch daher ist es interessant, noch einmal den Blick zurück auf den umstrittenen Künstler und sein Werk zu richten. Es passt gut, dass sich eine Editorin dieser Aufgabe angenommen hat, schließlich war auch Schlingensiefs zentrale künstlerische Methode die der Montage und Überlagerung unterschiedlicher Kontexte und Materialien. Bettina Böhler ist eine der Angesehensten ihres Fachs, die unter anderem regelmäßig mit Christian Petzold arbeitet. Zweimal in den 90er Jahren saß sie auch mit Schlingensief selbst am Schneidetisch, bevor der vom Film zum Theater desertierte.

Böhlers zweite Regiearbeit begleitet die Reise des autodiaktischen Filmemachers aus Oberhausen von den ersten Inszenierungen im kleinbürgerlichen Kinderzimmer über Bayreuths Grünen Hügel bis zum Finale in Burkina Faso und bei der »Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« auf der Ruhrtriennale. Dabei greift die Regisseurin mit viel Geschick ins Archiv und in die editorische Trickkiste und mixt ein intensives Gebräu aus Homemovies, Filmausschnitten, Theateraufzeichnungen und Interviewbrocken. Zunutze kommt dieser Arbeit, dass die Produktionsfirma Filmgalerie 451 eng mit Schlingensief verbunden war und ein großes Archiv zum Künstler besitzt.

Der war nicht nur ein inspirierender, sondern auch ein höchst unterhaltsamer Akteur, der bei seinen In(ter)ventionen scheinbar intuitiv private Geschichte und öffentlich bedeutsame Sujets verband, ohne sich mit den üblichen kunsttheoretischen Diskursen zu beschweren — es gibt eine köstliche Anekdote zum gescheiterten Versuch, mit Hilfe von Wim Wenders an die Münchner Filmhochschule zu kommen.

Doch Böhlers Fokus liegt zu Recht auf Schlingensiefs Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und deren Wirkung auf die Gegenwart. Aus der Rückschau besonders stark ist die Wiederbegegnung mit den bitterbösen Filmen der sogenannten Deutschland-Trilogie aus den Jahren 1989 bis 92 (u.a. »Terror 2000«), die erstaunlich hellsichtig die Verwerfungen der Widervereinigung und ihre damals noch potentiellen Folgen beleuchten. Sehr eindrücklich zeigt das Porträt aber auch, wie die Arbeiten Schlingensiefs schon lange vor seiner Krebsdiagnose immer wieder ganz existenziell von der Auseinandersetzung mit dem Tod geprägt waren.

Schlingensief — In das Schweigen hineinschreien. D 2020, R: Bettina Böhler, 124 Min.