Den Konflikt suchen

In seinem Essay »Warum Theater« fordert Jakob Hayner, die Schauspielhäuser zu schließen, um Zeit zur Reflexion zu haben. Ein Gespräch über die (Re-)Politisierung der Bühnen

Herr Hayner, durch die Corona-Maßnahmen steht das Theaterleben weitgehend still. Vermissen Sie es?

Die Situation ist paradox. Ich vermisse das Theater mehr und zugleich weniger als ich gedacht hätte. Mehr, weil das Theater ein gesellschaftlicher Ort ist, an dem das Soziale selbst zur Verhandlung steht, und bekanntlich gelten diese Orte nicht als systemrelevant, im Gegensatz zu Möbel- oder Autohäusern. Und weniger, weil das Theater diesem Anspruch schon zuvor immer weniger nachkam.

Wie kann denn das Soziale im Theater verhandelt werden?

Und warum gelingt das gegenwärtig nicht mehr? Jede Kunstform verhandelt die Tatsachen der Welt nach ihren eigenen Gesetzen, durch ihre künstlerische Form. Im Theater sind dabei Verstellung und Spiel zentral. Das Gegenwartstheater hat sich aber in weiten Teilen von diesen Begriffen verabschiedet und macht sich die Illusion, selbst als politische Institution wirken zu können, statt auf die künstlerische Form zu setzen.

Woran machen Sie das fest?

Eine wichtige Traditionslinie des Gegenwartstheaters liegt in der Performancekunst. Diese beansprucht für sich, klassische Begriffe des Theaters wie Schein, Spiel, Handlung und Rolle zu ersetzen. Stattdessen stehen Begriffe wie Ereignis, Körper und Performativität im Mittelpunkt. Die Fiktion wird verdrängt durch den Willen, eine »authentische Erfahrung« zu präsentieren, die es meist nur mit Grenzüberschreitungen und Regelverstößen glaubwürdig machen kann. Wenn das Theater aber selbst das sein will, was es eigentlich nur spielen kann, verliert es seine ästhetische Kraft. Auf der Bühne sieht man dann häufig Dokumentar-Theater, wo »Experten des Alltags« auftreten. Oder es müssen die »echten« Arbeitslosen, die »echten« Gewaltopfer sein, die für sich selbst sprechen. So will man sich einmischen, unterscheidet sich dann aber kaum noch von Zeitungen oder politischen Aktionen. Das ist ein Missverständnis, das weder der Politik noch dem Theater gut tut.

Wie sollte stattdessen das Verhältnis zwischen Politik und Theater aussehen?

Meine Vermutung ist, dass man dafür den Konflikt braucht. Der französische Philosoph Jacques Rancière sagt, dass Politik überhaupt erst stattfindet, wenn zwei Logiken aufeinandertreffen, wenn der Widerspruch und das »Unvernehmen« an die Stelle des falschen Konsens tritt. Das nennt er »paradoxe Bühnen«. Damit sind wir ja schon beim Theater.

Wie kann diese Art von Konflikt auf der Bühne ausgetragen werden?

Der Konflikt ist ja seit der Antike das zentrale Moment des Dramas. Es gibt beispielsweise zwei Positionen, die kollidieren, aber beide ihre Gründe dafür haben. Das sind systemische Gründe, daraus entsteht das Tragische auf der Bühne. Heute wird hingegen oft vermittelt, Konflikte seien nicht viel mehr als sprachliche Missverständnisse oder falsche Annahmen, denen die Menschen aufsäßen, und die man nur zu korrigieren hätte und alles wäre gut. Das merkt man auch am Vokabular, mit denen die Inszenierungen gerahmt werden. Man hört oft von »Perspektivwechseln«, »neuen Erfahrungen« oder einer »Veränderung der Betrachtungsweisen«, was rein subjektive Kategorien sind. Die Konflikte werden individualisiert. Dabei sind diese Gegensätze real und sie sind gesellschaftlicher Natur. Auch heute noch.

Welche Konflikte werden nicht mehr zur Sprache gebracht?

Themen gibt es genug. Ob nun klassische Themen wie Liebe und Freundschaft, Krieg und Frieden, oder gesellschaftliche Themen wie die Arbeitswelt. Ich würde sogar annehmen, dass man nahezu jeden Stoff nehmen könnte, um etwas über die Welt auszusagen. Entscheidend ist nicht das Was, sondern das Wie.

In ihrem Buch bringen Sie Bertolt Brecht als Inspiration für das Gegenwartstheater ins Spiel. Ist sein episches Theater nicht auch veraltet?

Eine konfrontative Klassenpolitik, wie die des US-amerikanischen Politikers Bernie Sanders, könnte man auch veraltet nennen. Aber veraltet ist etwas erst, wenn die zugrundeliegenden Ursachen verschwunden sind. Brechts Probleme sind zum Teil auch unsere. Wofür der Name Brecht zudem steht, ist die Übersetzung von politischen Einsichten in eine poetische Formensprache. Die Größe dieses Ansatzes kann heute noch Beispiel und Vorbild sein.

Wie sieht diese Übersetzung von politischen Einsichten in eine poetische Formensprache bei Brecht aus?

Brecht war ein Kritiker des Theaters seiner Zeit. Auf der einen Seite setzte er sich vom Naturalismus ab, der versuchte eine objektive Wirklichkeit ungebrochen auf die Bühne zu bringen. Auf der anderen Seite wandte Brecht sich gegen den Expressionismus und dessen Rückzug in die Subjektivität. Brecht schaffte ein Theater, das über diese Opposition hinausreichte, indem es subjektive Empfindungen und gesellschaftliche Verhältnisse vermittelte. Diese Vermittlung zum Gegenstand des Theaters zu machen, das kann auch heute noch sehr fruchtbar sein.

Jakob Hayner ist 1988 in Dresden geboren, lebt in Berlin und ist Redakteur bei »Theater der Zeit — Zeitschrift für Theater und Politik«. Sein 160-Seiten-Essay »Warum Theater. Krise und Erneuerung« ist jüngst im Verlag Matthes & Seitz erschienen und kostet 15 Euro.