Der Utopie verpflichtet: Julia Wissert am Theater Dortmund, Foto: Birgit Hupfeld

Die Königin der Utopie

Julia Wissert ist die neue Intendantin am Theater Dortmund

Die Startbedingungen, mit denen Julia Wissert ihre Intendanz am Theater Dortmund beginnt, sind nicht ideal. Eine Pandemie, die das öffentliche Leben zeitweise zum Stillstand brachte, und Kulturveranstaltungen, die nur unter strengen Hygiene-Vorschriften vor kleinerem Publikum stattfinden dürfen. Trotzdem wird Wissert von Theater-Fans, Kulturschaffenden und Ensemblemitgliedern freudig empfangen. Sie löst Kay Voges ab, der ganze zehn Jahre Intendant in Dortmund war, bevor es ihn jetzt als Direktor an das Volkstheater Wien zieht. Voges hat zum hohen Ansehen des Hauses beigetragen, unter seiner Leitung wurde das Theater mehrere Jahre in Folge von der Fachzeitschrift »Theater heute« als zweitbestes Theater im deutschsprachigen Raum gewählt.

Doch es ist schon gesichert, dass Julia Wissert in diese Fußstapfen treten kann. Die 36-Jährige studierte Media Arts and Drama in London sowie Regie in Salzburg. Gleich ihre Diplom-Inszenierung »Der Junge vor der Tür« am Hessischen Staatstheater in Wiesbaden erhielt 2014 den Kurt-Hübner-Regiepreis, einem Förderpreis für junge Regisseure. Ein Schwerpunkt von Julia Wissert ist es, auf der Bühne utopische Lebenswelten schwarzer Menschen zu kreieren. In einer szenische Lesung im Rahmen des »Stückemarkt Theatertreffens« präsentierte sie im vergangenen Jahr den Text »Vantablack« des schwarzen Künstlers Nazareth Hassan, der darin skizziert, wie die Welt aussähe, wenn die im 19. Jahrhundert der afroamerikanischen Bevölkerung zugesicherten Reparationszahlungen tatsächlich ausgezahlt worden wären.

Am Schauspielhaus Bochum inszenierte Wissert vergangenes Jahr das Jugendstück »2069 — Das Ende der anderen«. Darin entwirft sie ein Szenario, in dem es im Jahre 2069 in Deutschland mehr People auf Colour als Weiße gibt. Mit »Kaleni«, einem namibisch-deutschen Künstlerinnen-Kollektiv, dem sie selbst angehört, veranstaltete Wissert ebenfalls 2019 »Owela«, ein Festival, das künstlerisch ein neues Verständnis von Arbeit erprobte, und in Recklinghausen sowie in Windhoek stattfand.

»Im Theater interessiert mich die Frage, wie ich Welten erzeugen kann, die bestehende Normen in Frage stellen, ohne Menschen auszuschließen, sondern einzuladen, andere Wirklichkeiten zu denken«, sagt Julia Wissert im Gespräch mit dem neuen Regie- und Dramaturgie-Team in Dortmund. Unermüdlich ist sie darin, rasssistische Zustände zu kritisieren, auch im Theaterbetrieb. Mit ihre Diplomarbeit »Schwarz.Macht.Weiß.« legte sie eine kritische Analyse der Arbeitsverhältnisse schwarzer Theatermacher*innen an deutschsprachigen Bühnen vor und kritisierte die mangelnde Repräsentation schwarzer Menschen im Theaterbetrieb. 2017 konzipierte sie mit der Anwältin Sonja Laaser die »Anti-Rassismus-Klausel«, die in Verträge von freischaffenden Künstler*innen aufgenommen und so Produktionsbeteiligte vor Rassismus von Seiten des Hauses schützen soll. Im Fall rassistischer Äußerungen sieht die Klausel vor, dass das Theater Maßnahmen zur Bekämpfung und Sensibilisierung vornimmt, zum Beispiel Anti-Rassismus-Trainings, entsprechende Seminare für die Mitarbeitenden oder auch als Empowerment-Workshops für Betroffene. Jetzt, in der Spielzeit 2020/2021, ist Wissert selbst die erste schwarze Intendantin an einem Stadt- oder Staatstheater in Deutschland.

Als Wissert ihren neuen Spielplan vorstellte, schrieb sie in den sozialen Netzwerken: »It’s an artist’s duty to reflect their times, sagte die wunderbare Nina Simone. Mit diesem Anspruch haben wir einen Spielplan gemacht, der unseren Blick schärfen und den Fokus auf neue, bisher ungehörte Perspektiven legen soll.« Was dürfen wir also erwarten? Die Eröffnungspremiere ist für den 3. Oktober angesetzt. »2170 — Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?«, heißt das Stück, bei dem Julia Wissert auch Regie führt. Hier schildern fünf junge Autor*innen ihre individuellen Eindrücke und Vorstellungen der Stadt Dortmund aus einer Zukunftsperspektive.

Das Theater im Bezug zur Stadt, in der es steht und lebt, wird in diesem Jahr auf ganz besonders realisiert und zwar in Form einer Stadt-Intendanz, bei der die Be­­wohner*innen den Spielplan mitgestalten können. Sie können auch eigene Veranstaltungen organisieren. Denn Julia Wissert hat eine Vision, die sie im Grußwort des Spielzeithefts formuliert: »Das Schauspiel Dortmund wird zu einem Labor, in dem sich Künstler*innen und Bürger*innen aus der Stadt begegnen, um gemeinsam zu suchen, zu denken, zu träumen, zu analysieren, zu proben.« Ein Angebot zur Komplizenschaft, für mehr Demokratie in der Kultur. Denn da wo Julia Wissert ist, ist auch immer die Bereitschaft, alle Stimmen zu hören und so lange die Utopie anzubieten, bis sie, mit etwas Arbeit, irgendwann Realität wird.