Kennen ihren Todeszeitpunkt: »Die Befristeten« in Bochum, Foto: Birgit Hupfeld

Gutenachtküsse und Menschenhorror

Das Schauspiel Bochum kommt mit Canettis »Die Befristeten« aus dem Lockdown zurück

Es ist das erste große Haus, das in NRW wieder spielt und in der Corona-Zeit geprobt hat. Doch es ist es traurig zu sehen, wie sich das Häuflein von 50 Zuschauern im entkernten Theatersaal, der für 800 ausgelegt ist, verliert. Wie um zu beweisen, wie unverzichtbar Theater in der Krise als Reflexion über letzte, nicht ganz erfassbare Dinge sei, lässt Regisseur Johann Simons die gewaltige Bühnenmaschinerie zu einer Theaterillusionsmediation anwerfen: Eine Windmaschine wirft Nebelschwaden, es heben und senken sichBühnenböden und schaffen Ebenen und Abgründe. Dann kommen neun Schauspieler durch die Saaltüren herein, rot gekleidet, als seien sie Mitglieder einer Sekte.

Tatsächlich ist Elias Canettis Stück »Die Befristeten« eine Science-Fiction-Parabel: Jeder Mensch kennt seinen Todeszeitpunkt, ist nach der Zahl seiner Jahre benannt. Der Junge, der die Gutenachtküsse seiner Mutter zählen will, berührt, dass die privilegierten »88er« bei Frauen am besten ankommen. »Wir haben keine Angst, denn wir wissen, was uns bevorsteht«, skandieren sie. »Es ist herrlich, zu wissen wann.« Seltsame Bezüge ergeben sich zur Corona-Krise, in der wir auch Regeln gehorchen, damit uns der Tod nicht ereilt. Was bedeutet es, um den eigenen Tod zu wissen? Und was fängt man an mit dem bisschen Zeit? Soll man sich
da einfach so den Regeln unter­werfen?

Große Fragen, die durch die Pandemie dringlicher geworden sind. Immer wieder fallen Körper einfach in einen Bühnenschacht, verglühen wie Sternschnuppen, ein Menschenleben ist so schnell vorbei. Listig spielt Regisseur Johann Simons mit Corona-Bildern: Mal trägt jemand Maske, dann werden rot-weiße Abstandsstäbe geschwenkt. Der »Kapselan«, bizarrer Vollstrecker der Gebote, ist Schauspielerin Jing Xiang, die anfangs chinesisch spricht — eine schöne Verfremdungsebene, aber auch unnötige Anspielung auf den mutmaßlichen Ursprung des Virus. Die »50«, gespielt von Stefan Hunstein, zettelt schließlich eine Revolte an. Zunächst wird er als Verrückter ausgeschlossen, dann überzeugt er die Masse — individuelle Tode sind wieder erlaubt, Morde möglich.

So wird am Ende die Schauspielerin Gina Haller gewürgt wie der Afroamerikaner George Floyd: Die neue Selbstverantwortung bringt auch den Menschen-Horror zum Vorschein. Ein kluger Kommentar zum Zwischenfall, der die Welt vor drei Monaten ereilt hat.