Lethargie in der Dunkelkammer

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 221

Immer wird es schlimmer. Trotz Corona konnte man noch vor die Tür gehen, im Hitzesommer geht das nicht mehr. Das ist der eigent­liche Lockdown. Hygge brutal. Schnappe ich über? Ich wäre jedenfalls nicht allein. Ding, dong. Gesine Stabroth stapft rein, stöhnt, es sei »unerträglich heiß in der Bude«, und sie reißt die Fenster auf. Es ist so töricht.

Ja, weiß sie denn nicht: Man veranstaltet morgens in aller Herrgottsfrühe einen Durchzug, bis alle Haftnotizzettel vom Schreibtisch geweht sind. Anschließend verrammelt und verdunkelt man seine Behausung für den Rest des Tages. Fenster dicht, Rollläden runter, Licht löschen, denn das wärmt nur. Liegen. Warten auf den Abend, auf Linderung, und darauf, dass ich mich aufraffen kann, die verstreuten Haftnotizzettel aufzulesen. Sisyphos hat seinen Stein, ich habe die Zettel. Lethargie in der Dunkelkammer. Es verstreichen die Stunden, die Tage. Ich sehne mich nach Klarheit in diesem bösen Dämmer.

Es fällt mein Blick auf das alte Hygrometer. Es misst die Luftfeuchtigkeit, es ist unbestechlich, alles, was es anzeigt, ist klar und deutlich und unbezweifelbar. Aber dafür muss es geeicht sein. Dies gelingt mit einem nassen Handtuch oder Kochsalz, ich erspare Ihnen die Details. Ich habe ein Hygrometer kalibriert. Wer könnte das schon von sich behaupten? Es ist das erste der 111 Dinge, die ich noch zu tun gedachte, und das letzte, denn die anderen hundertzehn können nur noch öde sein. Nun weiß ich, dass ich bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 52 Prozent in meiner Dunkelkammer hause. Das ist ein sensationeller Wert, dank meines ausgeklügelten Lüftungskonzepts! Mehr ist nicht drin, man muss das akzeptieren.

Doch Gesine Stabroth reißt bei 40 Grad Celsius Außentemperatur die Fenster auf, um »frische Luft« hereinzulassen. Man ist unzufrieden mit den Gegebenheiten, man will eine Verbesserung seiner Lage erzielen, und dann verfällt man auf alte, völlig untaugliche Routinen. Vom Regen in die Traufe, vom Hitzesommer in den Glutofen.

Die Menschen verlassen sich auf ihr »Bauchgefühl«. Ihm Widerstreit zwischen Intuition und Analyse hören sie statt aufs Hirn auf den Bauch. Der ist ein gemütlicher Kumpel, das Hirn ein Pedant. Der Bauch mag geselliger sein, aber er erteilt schlechte Ratschläge, es sind fake news. Ich sehne mich nach unverbrüchlichen Wahrheiten, ich habe mein Hygrometer.

Ist es unziemlich, eine Dame zurechtzuweisen? Immerhin ist es ja Gesine Stabroth selbst, die allein mit ihrer Anwesenheit die Quecksilbersäule in den Thermometern nach oben schnellen lässt. Ich meine das nicht als schwüle erotische Metapher, es ist tatsächlich so. Der menschliche Körper wirkt doch wie ein Heizlüfter, das ist wissenschaftlich erwiesen, mit bis zu 120 Watt! Aber Gesine Stabroth hört gar nicht zu. Gesine Stabroth rennt im Stechschritt durch die Wohnung, öffnet und schließt die Fenster, immer unsystematischer tut sie das und droht, alle bislang erzielten Erfolge zunichte zu machen. Ich flüstere: »Lass uns das bisher Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen«, aber es ist zu spät. Wüstenwinde wehen träge in die Wohnung, der Schlaf kommt wie ein Schwindel.

Gesine Stabroth nimmt mir das Hygrometer aus dem Arm, reicht lauwarmen Kamillentee (»Das ist bei der Hitze das Beste«). Ich gieße ihn heimlich in die Topfpflanzen, während Gesine Stabroth erneut durch die Wohnung marschiert. Sie findet den Ventilator, sie schaltet ihn an, es riecht nach altem Staub. Haftnotizzettel stieben zum Fenster hinaus. Und während ich ihnen mit trübem Blick hinterherschaue, habe ich vergessen, was ich darauf notiert hatte. Was macht Sisyphos ohne seinen Stein? Ich mache jetzt Kaffee, das ist genau falsch, aber er macht wach und es ist mir ganz gleich.