Am Wendepunkt

Ende Juni wollte die Stadt ein besetztes Haus in Raderberg räumen lassen und brachte damit das Selbsthilfeprojekt »Obdachlose mit Zukunft« in Gefahr. Die Räumung platzte und der politische Druck auf die Stadtspitze wuchs. Nun scheint das Projekt tatsächlich eine Zukunft zu haben

Der Parkplatz des Südstadions ließ vermuten, dass sich gewaltbereite Fußballhooligans zur Keilerei angekündigt hätten. Es war der frühe Morgen des 25. Juni, kurz nach Sonnenaufgang, als mehrere Dutzend Mannschaftswagen der Polizei in Zollstock anrollten. Die drei Hundertschaften zogen jedoch nur wenig später unverrichteter Dinge wieder ab — und Hans Mörtter hatte daran großen Anteil. »Ich habe auf die Pauke gehauen«, sagt der evangelische Pfarrer aus der benachbarten Lutherkirche. »Ich wusste nicht, was ich anderes tun sollte.«

Dem Vernehmen nach hatte Mörtter in der vorangegangenen Nacht zum Handy gegriffen, um bei Oberbürgermeisterin Henriette Reker und ihrem engem Vertrauten, dem ehemaligen FDP-Innenminister Gerhart Baum, Alarm zu schlagen. Mörtter wollte, dass Reker die geplante Räumung eines Hauses in Raderberg stoppte, das etwa 30 obdachlose Menschen besetzt hatten. Und das gelang ihm.

Keine sieben Wochen später sitzt Mörtter in einem Café in der Südstadt und sagt: »Ich bin zuversichtlich, dass die Menschen eine langfristige Perspektive bekommen und freue mich darauf, dass wir gemeinsam gestalten können.« Mörtter ist seit Jahrzehnten in Köln engagiert und bestens vernetzt. Gerade spüre er eine Aufbruchsstimmung in der Sozialpolitik der Stadt.

Das sechsstöckige ehemalige Bürogebäude, das Ende Juni von den 300 Beamten gestürmt werden sollte, liegt an der Bahnstrecke westlich der Bonner Straße auf dem Großmarktgelände. Anschrift: Marktstraße 10. Hier soll die Parkstadt Süd entstehen, im März beschloss der Rat, das Haus abzureißen. Seit Januar hatten rund 30 obdachlose Menschen das leerstehende Gebäude besetzt und dort während der Hochphase der Corona-Pandemie eine sichere Zuflucht gefunden. Sie haben gemeinsam eine Küche gebaut, Zimmer und Duschräume hergerichtet, sich Wohnregeln gegeben. »Manche Bewohner haben ihre Zimmer richtig liebevoll eingerichtet. Daran sieht man, wie stark die Sehnsucht der Menschen nach einem Zuhause ist«, erzählt Mörtter. Die meisten Bewohner hatten vorher auf der Straße gelebt oder die Nächte in Mehrbettzimmern in der Notschlafstelle an der Vorgebirgstraße verbracht. In der Marktstraße konnten sie Einzelzimmer beziehen und sich besser vor dem Corona-Virus schützen.

Die Bewohner haben sich den gemeinsamen Namen »Obdachlose mit Zukunft« gegeben, die Gruppe ist aber durchaus vielfältig. Neben Wohnungslosen leben dort Studierende und sogenannte Wanderarbeiter, die meisten aus Rumänien und Polen und nicht wenige von ihnen bis vor kurzem ohne Pässe. »Das Besondere an diesem Projekt ist, dass die Gruppe sehr heterogen ist und dass Wanderarbeiter sich angeschlossen haben«, sagt der Journalist Martin Stankowski, der sich wie Mörtter für das Projekt engagiert. Bis heute gibt es interne Spannungen in der Gruppe, deren Interessen teilweise unterschiedlich sind. »Die Gruppe hat aber schon deutlich wildere Zeiten hinter sich und Konflikte gemeinsam gelöst«, so Stankowski.

Die Stadt wollte das Haus bereits zum 30. März räumen lassen, nachdem sie auf die Besetzung aufmerksam wurde. Die Begründung: Gesundheitsgefahr durch starken Schwarzschimmmelbefall. Doch die Einschätzung des Liegenschaftsamts erwies sich seinerzeit als nicht haltbar. »Das war die erste Lüge des Liegenschaftsamts in Bezug auf die Marktstraße«, sagt Stankowski. Nach Gesprächen mit den Hausbesetzern hatte die Stadt schließlich wegen der damals hohen Corona-Infektionszahlen von der Räumung abgesehen. Sozialdezernent Harald Rau, der sich für das Projekt einsetzte, gewährte ihnen eine Duldung bis zum Abriss, der zunächst auf den August terminiert war und nun wohl im Oktober stattfinden soll. Rau stellte den Besetzern zwei Mitarbeiter aus seinem Dezernat als Ansprechpartner zur Seite. In dieser Zeit formierte sich auch ein engagierter Unterstützerkreis, zu dem neben Stankowski und Mörtter auch Kabarettist Jürgen Becker und Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) zählen.

Auch die Politik versammelt sich hinter dem Projekt, das gerade bei den Grünen, Linken und der SPD schnell Sympathisanten fand. Sie loben die Selbstverwaltung, den Solidaritäts- und Gemeinschaftsgedanken und unterstützen den besseren Gesundheitsschutz der Bewohner. »Das ist ein Projekt der Selbsthilfe und sozial-integrativ. Menschen aus Südost- bzw. Osteuropa und auch gesundheitlich angeschlagene Menschen sind Teil der Gemeinschaft. Sie alle haben sich gegenseitig in der Zeit akuter Corona-Gefährdung vorbildlich unterstützt«, sagt etwa Marion Heuser, sozialpolitische Sprecherin der Grünen, die das Haus mehrmals besuchte.

»Hier sieht man, wie stark die Sehnsucht der Menschen nach einem Zuhause ist«ࢽ
Pfarrer Hans Mörtter

Dennoch: Drei Monate später startete das Liegenschaftsamt gemeinsam mit der Oberbürgermeisterin einen erneuten Räumungsversuch. In Anbetracht der gesunkenen Infektionszahlen im Juni würden eklatante Sicherheitsbedenken die weitere illegale Nutzung des leerstehenden Bürogebäudes als Notbehausung nicht mehr zulassen, teilte die Stadt mit. Das Liegenschaftsamt hatte ein zwölfseitiges Papier mit Mängeln zusammengetragen, vor allem unzureichender Brandschutz und unsachgemäße Elektroinstallationen seien eine Gefahr für die Bewohner. »Scheinbar hat sich das Liegenschaftsamt gegen das Sozialdezernat durchgesetzt«, sagt Martin Stankowski. Dann wurde die Räumung aber trotz der angerückten Hundertschaften in letzter Minute abgeblasen, die Stadt beruft sich auf »Deeskalationsgründe«. In einer Mitteilung der Stadt heißt es: »Während der vergangenen Nacht folgten verschiedene Gruppierungen und polizeibekannte Einzelpersonen aus Köln und aus anderen Regionen der Bundesrepublik einem Aufruf, sich vor Ort der Besetzung anzuschließen und eine Räumung zu verhindern. Dies führte zu einer neuen Sicherheitseinschätzung am heutigen Morgen.« Martin Stankowski, der wie Pfarrer Mörtter und führende SPD-Politiker vor Ort war, spricht von einem friedlichen Protest und keinerlei Anzeichen von Gewalt oder Bedrohung: »Klar haben sie die Möbel rausgeräumt. Aber sonst verlief alles völlig ruhig. Da hätte die Polizei uns auch alle mitnehmen müssen, wie wir so da standen.«

Mit der geplatzten Räumung wuchs der Druck auf die Stadtspitze nicht nur aus der Bürgerschaft, sondern auch aus der Politik: Die Kölner SPD beantragte eine Aktuelle Stunde für die nächste Ratssitzung am Montag, 29. Juni, Rekers grüne Bündnispartner positionierten sich öffentlich gegen die Räumung. Rolf Stärk, ehemaliges Ratsmitglied der Grünen, forderte Oberbürgermeisterin Reker gar in einem Offenen Brief auf, ihr Amt niederzulegen. »Die Absicht, mitten in der Coronakrise die am schwersten Gefährdeten zu vertreiben, ist moralisch unter jedem aussprechbaren Niveau und in unserer Stadt mit ihrer traditionell kölschen Linie eine nie dagewesene politische Verfehlung«, schrieb Stärk.

Einen Tag vor besagter Ratssitzung wurde die Kehrtwende eingeleitet. Henriette Reker beging das Gebäude gemeinsam mit einem Brandschutzgutachter und dem Architekten Bodo Marciniak, der bereits zahlreiche selbstverwaltete Projekte, etwa die Indianersiedlung in Zollstock, begleitet hat. Die Sachverständigen gaben Entwarnung. Mängel ja, aber von Lebensgefahr kann keine Rede sein. Einen Tag darauf beschloss der Stadtrat in der von der SPD einberufenen Aktuellen Stunde mit breiter politischer Mehrheit, dass die Bewohner das Gebäude nicht vor Abriss verlassen müssen. Weiter wurde verabschiedet, dass die Stadt eine leer stehende städtische Liegenschaft suchen solle, um ein selbstverwaltetes Wohnprojekt ins Leben zu rufen. Die geplante Räumung lag zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vier Tage zurück. »Dass der Stadtrat sich fast einstimmig für dieses Projekt aussprach, war ein starkes politisches Signal«, sagt Pfarrer Hans Mörtter.

Doch obwohl schnell ein überparteilicher Konsens hergestellt worden war, blieb Kritik an der Stadtspitze. Im Raum stehen verschiedene Vorwürfe, die sich vor allem an Oberbürgermeisterin Reker und Liegenschaftsdezernentin Andrea Blome richten: unnötige Law-and-Order-Politik gegen soziale Randgruppen; konstruierte Gründe, um die Räumungen zu rechtfertigen; Zerschlagung eines Selbsthilfeprojekts und vor allem auch die grundlose Vertreibung aus einem ohnehin leer stehenden Gebäude mitten in der Corona-Krise.

Vor allem die Opposition schaltete in den Wahlkampf-Modus. Christian Joisten war am Morgen der geplanten Räumung um 5.30 Uhr vor Ort. Reker-Herausforderer Andreas Kossiski besuchte einen Tag zuvor das Hausprojekt. »Was Frau Reker hier versucht, ist reine Law-and-Order-Symbolpolitik ohne Sinn und Verstand — alles auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft«, sagte Joisten. Kritik kam auch von Rekers grünen Unterstützern. »Ich denke, dass die OB gemerkt hat, einer Fehleinschätzung gefolgt zu sein«, sagt Grünen-Ratsmitglied Jörg Frank. Wie die Begehung mit einem unabhängigen Gutachter gezeigt habe, hätte die Verwaltung die Gefahrengründe völlig überzogen dargestellt, so Frank. »Offenbar sollte ein rechtlicher Räumungsgrund konstruiert werden. Es war eine eklatante Fehlentscheidung, die Polizei für eine Räumung aufmarschieren zu lassen, statt von vornherein nach einer konstruktiven und sozialen Lösung zu suchen.« Die Entscheidung hat zwar die Oberbürgermeisterin zu verantworten, dem Vernehmen nach habe aber das Dezernat von Andrea Blome die Räumung angeordnet. »Das Hauptproblem in diesem Konflikt ist für mich das Liegenschaftsamt. Der Teil in der Verwaltung, der am Störrischsten ist, soziale Probleme zu lösen«, erklärt Martin Stankowski. Auch der OB-Kandidat von Die Linke, Jörg Detjen, sagt: »Nachdem Herr Rau als Sozialdezernent die Duldung bis August ausgesprochen hat, muss die Liegenschaftsverwaltung unter Frau Blome noch mal Druck in die andere Richtung gemacht haben.«

Das Zusammenspiel verschiedener Ämter wird nun auch darüber entscheiden, ob das Projekt »Obdachlose mit Zukunft« seine optimistische Prognose nur im Namen trägt. Unvermittelt hatte die Verwaltung Anfang August gemeldet, dass man den Marktstraßen-Bewohnern »einen alternativen Standort zur Realisierung ihres selbstverwalteten Wohnprojektes« angeboten habe. Es handelt sich um ein Gebäude an der Gummersbacher Straße in Deutz. »Man sieht, der Wille ist da, eine schnelle Lösung zu finden«, sagt Südstadt-Pfarrer Hans Mörtter, der zwischen den Bewohnern und der Stadt vermittelt. »Aber das Objekt ist schwierig.« Das Gebäude, das von der Stadt als geeignet bewertet wird, sei in einem schlechten Zustand und würde zudem derzeit von obdachlosen Menschen bewohnt. Damit folgt der nächste Konflikt: Wo sollen diese Menschen dann hin? Zudem, sagt Mörtter, sei die befristete Nutzung kritisch: In zwei Jahren wird die GAG, der bereits das Nachbarhaus gehört, das Haus von der Stadt kaufen und auf dem Gelände 68 Sozialwohnungen errichten. Und »Obdachlose mit Zukunft« stünde wieder auf der Straße. Ein Perspektivprojekt ohne Perspektive? Für Mörtter ist das widersinnig. »Das ist Quatsch, das in einem Gebäude zu machen, das in zwei Jahren abgerissen wird.«

»Offenbar sollte ein rechtlicher Räumungsgrund konstruiert werden«Jörg Frank, Grünen-Mitglied

Die Marktstraßen-Unterstützer hoffen, dass das Modell des selbstverwalteten Wohnens für obdachlose Menschen Schule macht. »Wenn das Projekt gelingt, dann kann man es multiplizieren. Aber man muss beweisen, dass es funktioniert«, sagt Mörtter. Dafür braucht es Rahmenbedingungen. Mörtter & Co. wollen gemeinsam eine Lösung finden — das Haus an der Gummersbacher Straße sei es nicht. Zudem gründen sie derzeit einen gemeinnützigen Verein, der auch andere vergleichbare Projekte künftig unterstützen möchte. Er wäre ein möglicher Träger für die »Obdachlosen mit Zukunft«. »Ich sehe einen Willen, die Frage neu zu denken: Wie funktioniert miteinander wohnen für die Menschen in der Stadt, die ganz unten sind?« sagt Mörtter.

Der zuständige Sozialdezernent Harald Rau betont zwar, dass die Besetzung von Häusern keinesfalls ein Pilotprojekt für die Stadt sein kann und man Menschen nach einem Rechtsbruch nicht privilegiert behandeln wolle. »Gleichzeitig erkennen wir die Not vieler obdachloser Menschen, auch solcher, die keine Häuser besetzen. Solche Projekte, in denen Menschen selbst Verantwortung für gemeinsames Vorgehen übernehmen, betrachte ich gerne als unterstützenswerte Pilotprojekte.« Bereits im Mai hatte der Stadtrat beschlossen, das »Housing-First-Modell« mit über fünf Millionen Euro zu fördern, um obdachlosen Menschen die Rückkehr in »Normalwohnraum« zu erleichtern. Die Sozialpolitik der Stadt könnte sich in einem Umdenken befinden. Es gibt Hoffnung — nicht nur für die 30 Bewohner der Marktstraße, sondern auch für die geschätzt 4000 Menschen, die in Köln auf der Straße leben0.