Der mit dem Licht spielt: Hu Ge als Zhou Zenong

Der See der wilden Gänse

Diao Yinans Film noir zeigt Wuhan als Monster aus Beton und Traurigkeit

Die Beton-Tristesse von Wuhan: fahlgrünes Licht, ewiger Regen, digitalklare Konturen. Ein Mann drückt sich in die Schatten, an die Säulen. Eine fremde Frau in Rot — das Alarmsignal schlechthin im Kino — nähert sich: Ob er eine Zigarette habe? Natürlich. Bald die zweite Frage: Ob er nicht Zhou Zenong sei? Es ist klar: Diese Frau bedeutet Ärger. Oder Rettung.

Seit seinem Berlinale-Gewinner 2014, dem Thriller »Feuerwerk am helllichten Tage«, gilt Regisseur Diao Yinan als Spezialist dafür, die schrofferen Regionen der chinesischen Provinz in kaltes, diffuses Licht zu tauchen. Entsprechend beginnt »Der See der wilden Gänse« mit einem Filetstück in Sachen Gegenwarts-Noir: Kamera, Licht, Figuren, Bewegung, Timing, nicht zuletzt das geniale Setting — alles wunderbar stimmig, atmosphärisch dicht, anheimelnd abweisend. Hier macht ein Film ein Versprechen — und löst es ein.

Zhou ist auf der Flucht. Eine Gang ist ihm auf den Fersen — wie es dazu kam, wird in einem Mob-Crime-Drama eigenen Rechts genial zugespitzt erzählt. Außerdem jagt ihn die Polizei, weil er einen Cop umgebracht hat. Die Frau, Liu, könnte ihn verpfeifen und dickes Geld kassieren. Oder ihn mit seiner Ehefrau zusammenführen. Oder ihn orchestriert verpfeifen und die Belohnung an die Gattin weiterreichen. Ärger und Rettung.

Ein Hauch von Godards »Außer Atem« liegt in der Luft. Vom romantischen savoir vivre des Nouvelle-Vague-Klassikers zwischen Pariser Lebensart, coolem 1950er-Jazz, schönen Frauen und lässigen Typen aber keine Spur: Diao Yinans China ist ein schmuddeliges Anti-Idyll. Ein Gedicht aus Licht und Materie.

Überhaupt: das Licht. Dieses Neon-Noir ist ein eigener Protagonist, beinahe so als begreife Diao Yinan seinen Plot als Aufhänger für immer neue, sehr stimmige Farbexperimente. Banale Motorroller mit zierenden Lichterketten muten wie Ufos an, immer wieder verfremdet das Licht das Setting, holt Akzente ins Bild, verschiebt das Geschehen ins Irreale. Kein Zufall, dass eine großartige, lakonisch zurückhaltende Verfolgungsszene nachts auf einem Vergnügungspark mit zwar bescheidenen, aber kunterbunt ausgeleuchteten Attraktionen spielt. Und dass eine Protagonistin in eine Auslage mit Leuchtklimbim fällt. Einmal zeichnen sich am fernen Nachthorizont einsame Motorroller-Scheinwerfer auf abschüssiger Fahrt am Himmel ab, die die Konturen eines Gebirges nur indirekt preisgeben. Dazu brütende Elefanten. Der staunende Tiger. Den muss man gesehen haben, um ihn zu glauben.

Es ist ein verblüffender Effekt, den Diao Yinan erzielt: Einerseits ist sein Crime-Stoff absolut gegenwärtig und knüppelhart realistisch. Andererseits entlockt der Film seinem Setting immer wieder entzückend-entrückte Spitzen ins Surreale. Ohne in die leere unverbindliche Style-Fantastik abzugleiten, wie sie im asiatischen Raum insbesondere das südkoreanische Kino oft bedient.

Hinzu kommt ein Location-Scouting zum Niederknien: Wuhan präsentiert sich als dumpf in Nacht und Regen brütendes Monster aus Beton und Traurigkeit. Ein Ort, dem jeder utopische Fluchtpunkt abhanden gekommen ist, und der ein Äußeres kaum zu kennen scheint. »Der See der wilden Gänse« wurde vor Corona gedreht. Dass die Stadt seitdem traurige globale Berühmtheit erlangt hat, ist als Film-PR unbezahlbar — während der Film selbst für Wuhan alles andere als PR betreibt.

Klar ist: Hollywood fand seinen Schwarzweiß-Noir einst im tiefen urbanen Sumpf der westlichen Metropolen und damit einen ur-amerikanischen, längst postmodern entkernten, überhöhten Stil. In China bedeutet Noir nichts als verdammte Gegenwart. Draußen in der bedrückenden Peripherie.  Schließlich, wenn die Nacht vergangen ist und der Spuk der Lichter und Dioden wie ein ferner Albtraum erscheint, erst dann zeigt sich, was es mit Liu tatsächlich auf sich hat.

(Nan Fang Che Zhan De Ju Hui)
CHN/FRA 2019, R: Diao Yinan, D: Ge Hu, Chloe Maayan, Gwei Lun Mei, 113 Min. Start: 27.8.