Eduscho oder »Ja!«? Kritik der subtilen Unterdrückung, Foto: Robin Junicke

Der feine Unterschied

Bei der digitalen Ausgabe des Impulse Festivals im Juni diskutierte man über Klassismus im Theater

Im prachtvollen Foyer des Deutschen Theaters in Berlin geschah im Januar 2014 etwas, das selten vorkommt im Kulturbetrieb: Statt Sekt und Häppchen bekamen die Anwesenden erst einmal eine Abreibung. »Sie haben uns zwar nicht eingeladen, wir sind aber trotzdem gekommen«, erklärte ein junger Mann, der gemeinsam mit seinen Mitstreiter*innen die Bühne ge­­stürmt und das Mikrofon ergriffen hatte. In wenigen pointierten ­Sätzen führte er die Absichten der Fachtagung über kulturelle Zugangsbeschränkungen im Theater ad absurdum.

Denn gerade die, über die hier gesprochen werden sollte, waren nicht an der Konzeption der Konferenz beteiligt. »Das monokulturelle Biotop redet mal wieder über uns, um sich am Leben zu erhalten«, resümierte der Redner und rief eine Gegenkonferenz mit betroffenen Expert*innen aus. Das Video dieser eindrücklichen Aktion ist bis heute im Netz zu sehen, auf der Seite des »Bündnis Kritischer Kulturprak­tiker*innen«. Hat sich im Theaterbetrieb seitdem etwas verändert?

Kulturnutzung, so bestätigen es sämtliche Studien zur Besucherforschung in Deutschland, ist in der Regel an ein höheres Bildungsniveau geknüpft und zwar mit zuneh­men­der Tendenz. Zu hohe Eintritts­preise, mangelnde Angebote in der Umgebung, aber vor allem soziale Barrieren halten viele Menschen vom Theater fern. »Das Theater ist ein Abhängort der Bildungselite«, findet auch Regisseurin Sahar Rahimi. Beim Impulse Festival, das in diesem Jahr digital stattfand und sich mit Klassismus im Theater, also der Ausgrenzung aufgrund der sozialen Herkunft, beschäftigte, eröffnete sie den »Working-Class-Stammtisch«.

»Klar gibt es schon mal ein Projekt in Marzahn oder im Münchner Hasenbergl«, sagte Rahimi bei ihrem Impulsvortrag. Es gebe Arbeitslosen­chöre, Ensembles mit Geflüchteten und in der Bergbaustadt Bochum inszenierte man Gerhard Hauptmanns Arbeiterdrama »Die Weber«. Doch das sei bloßer Zeitvertreib. Die Kunst sei noch immer ein hochwirksames Mittel zur Sichtbarmachung der feinen Unterschiede: Wie betritt jemand das Foyer? Wer spricht über das Stück? Und mit welcher Selbstverständlichkeit? »Ich kann meine soziale Herkunft offenbaren, aber ich kann sie auch leugnen, verschleiern, verstecken«, sagte Sahar Rahimi — und dann hoffen, dass die »Hochstapelei« nicht auffalle. Das Gefühl, nicht zu genügen oder dazu zugehören, sei ein großer Faktor, warum einige Menschen nichts ins Theater gingen.

Es ist eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite wird dem Theater das Potential zugesprochen, ein Ort der Begegnung unterschiedlicher Menschen zu sein. Ein Ort, an dem neue Perspektiven für das Zusammenleben in der Gesellschaft entwickelt werden können. Auf der anderen Seite ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung ausgeschlossen. Etwa 50 Prozent der Menschen in Deutschland, so eine Studie des Bielefelder Kulturwissenschaftlers Thomas Renz aus dem Jahr 2016, besuchen überhaupt keine Kulturveranstaltung.

Ob das auch am künstlerischen Angebot liegt, war innerhalb der Publikumsforschung bislang selten Gegenstand. Francis Seek vom »Institut für Klassismusforschung« in Münster hat sich für das Impulse Festival die Programme der Freien Szene angesehen, als die für ihre Online-Angebote während des Lockdowns warben. Das Fazit: Auch hier gelte eine »Norm der akademischen Mittelklasse«. »Ständig wurde dazu aufgerufen, das Home Office zu unterbrechen, um an einem Stream teilzunehmen«, erzählte Franics Seek. Dabei arbeiten laut der Mannheimer Studie selbst in Zeiten der Pandemie nur knapp 24 Prozent der Menschen von Zuhause aus, die meisten von ihnen in akademischen Jobs. Und auch angekündigt wurden die Programme häufig mit Begriffen aus der Wissenschaft, als »Online-Symposien« oder »Try Outs«.

»Klassengemischter wurde es eigentlich nur bei den Bildungsangeboten, wenn Jugendliche oder Schulklassen angesprochen wurden«, sagte Francis Seek und sprach damit eine Kritik an, mit der seit Jahren über das Konzept der sogenannten Kulturvermittlung diskutiert wird. Ein Begriff, der ursprünglich aus der Kolonialzeit des wilhelminischen Kaiserreichs stammt, und scharfe Grenzen zieht zwischen den Vermittlern, ihrer Mission und denen, die missioniert werden sollen. Mit dem »Diversity-Bus«, wie ein Gast in der anschließenden Diskussion kommentierte, karre man ein paar People of Colour und Menschen mit Behinderung ins Theater. Aber verbirgt sich hinter diesen mitunter ambitionierten Projekten wirklich so viel Polemik? Steckt das Theater wirklich in einer Filterblase, in der es nur die Interessen eines bestimmten Publikums bedient? Und wie können wir im Theater überhaupt über Klasse sprechen?

»Es ist das Thema, bei dem wir alle verkrampfen, nervös werden, nicht sicher sind, wo wir stehen«, schreibt die US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin bell hooks in ihrem Buch »Die Bedeutung der Klasse«. Im Mai 2020 ist es auf Deutsch erschienen. Sie plädiert für eine radikale Offenheit, und vielleicht ist es das, was das Impulse-­Festival in diesem Jahr erreicht hat — obgleich der Eindruck immer noch Bestand hat: Erreicht hat es nur bestimmte Menschen.

impulsefestival.de