»Die Rolle des verwöhnt-genialen Kindes hat Benjamin nie abgelegt«

13 Jahre war Dora Benjamin mit dem Philosophen Walter verheiratet. Sie gilt als schwierig und unintellektuell. »Das Echo deiner Frage« von Eva Weissweiler korrigiert dieses Bild

Dora Benjamin war von 1917 bis 1931 mit Walter Benjamin verheiratet. Und sie war die Mutter seines einzigen Kindes Stefan. In der Benjamin-Forschung aber kommt sie bis heute ziemlich schlecht weg. Warum eigentlich?

Das liegt vor allem an dem jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, mit dem Walter Benjamin seit seiner Studienzeit eng befreundet war. Scholem hat als einer der ersten ein sehr ambivalentes Urteil über Dora Benjamin abgegeben. Einerseits hat er sie bewundert, weil sie eine überaus attraktive, starke und temperamentvolle Frau war. Andererseits aber hat Scholem sie als hysterisch bezeichnet und war nach dem tragischen Selbstmord Benjamins 1940 der Meinung, dass Dora sich geweigert habe, ihre Erinnerungen an ihn adäquat aufzuzeichnen. Später haben dann auch noch zwei weitere Freunde von Benjamin, Herbert Blumenthal und Franz Sachs, sie als »ehrgeizige dumme Gans« und »Alma Mahler en miniature« bezeichnet. Und diese üble Nachrede wurde von der Benjamin-Forschung leider kaum hinterfragt.


Dabei war Dora Benjamin ja alles andere als eine dumme Gans. Sie wurde 1890 als Dora Kellner in Wien geboren, vor dem Ersten Weltkrieg studierte sie Chemie. In der Weimarer Republik machte sie dann als Journalistin und Buchautorin Karriere. Wie ungewöhnlich war das?

Nicht so ungewöhnlich, wie man vielleicht denken könnte. Unter den Mitstudenten von Dora Benjamin waren, als sie 1909 mit ihrem Chemie-Studium in Wien anfing, immerhin zehn Prozent Frauen, fast alle davon jüdisch. Denn in den jüdischen Elternhäusern machte man schon damals bei der Erziehung der Kinder keinen Unterschied und legte auch auf eine gute Bildung der Töchter großen Wert.

Den 21-jährigen Walter Benjamin lernte die 22-jährige Dora dann in einem studentischen Debattierclub 1914 in Berlin kennen. Sie hörte einen Vortrag von ihm und war quasi sofort für Benjamin entflammt. Das Problem aber war: Beide waren zu diesem Zeitpunkt bereits anderweitig in festen Händen. Dora hatte 1912 den Fabrikantensohn Max Pollak geheiratet, und Walter Benjamin war mit Grete Radt verlobt. Wie kamen beide trotzdem zusammen?

Was man heute nicht mehr so weiß: Damals herrschten erotisch sehr bewegte Zeiten. Zumindest in Berlin war es auch schon vor dem Ersten Weltkrieg so, dass in der Bohème »ein emotionaler Inzest« herrschte, wie ein Zeitgenosse das einmal formulierte. Jeder war irgendwie in jede und jeden verliebt und hatte oft drei oder vier Liebesverhältnisse nebeneinander. Und ob man da verheiratet oder verlobt war, störte die Bohèmians nicht sonderlich.


Die Scheidung von Max Pollak verlief für Dora dann glücklicherweise reibungslos. Die Geschiedene erhielt sogar ein kleines Vermögen und heiratete gleich im Anschluss 1917 Walter Benjamin, also im vorletzten Kriegsjahr. Um dessen Einberufung zu entgehen, zog das Ehepaar danach sofort in die Schweiz, wo 1918 ihr Sohn Stefan geboren wurde. Beim Lesen hat mich erschüttert, wie wenig sich beide Eltern erst einmal um ihr Baby gekümmert haben. Warum taten sich Walter und Dora Benjamin so schwer mit ihrer Elternrolle?

Ich glaube, für Dora war das Kind erst mal ein riesiger Schock. Dieses Phänomen ist mir auch schon bei Luise Straus-Ernst begegnet. Die war 1922, als sie mit Max Ernst den Sohn Jimmy bekam, auch erst einmal völlig überfordert, weil das Muttersein in zu krassem Gegensatz zu ihren emanzipatorischen Idealen stand. Für die intellektuell-selbstbewusste Dora war das wohl genauso. Zumal Walter Benjamin immer auf seine persönliche Freiheit gepocht hat. Er berichtet ja selbst in seinen Notizen davon, dass das erste Wort, das sein kleiner Sohn Stefan sagte, »Ruhe« gewesen sei. Walter Benjamin war ein absolut geräusch-überempfindlicher Mensch. Am liebsten lebte er in Zimmern mit dreifachen Ledertüren, abgeschirmt von jedem Kindergeschrei.


Ich habe mich trotzdem gefragt, warum Dora Benjamin Walter Benjamins Pflichten als Vater nicht stärker eingeklagt hat. Hat sie ihn damit nicht auch in seiner Pascha-Rolle bestärkt?

Ja, absolut! Zumindest in den ersten Ehejahren. Da hat Walter Benjamin in der Tat wie ein Pascha nur das gemacht, was er wollte. Er hat studiert, wann und wie lange er wollte. Er war auch der einzige, der im Schweizer Haushalt eine Leselampe zur Verfügung hatte. Dora konnte in diesen Jahren also immer nur dann Briefe schreiben, wenn Walter Benjamin außer Haus war. Die Rollenverteilung in dieser Ehe war erst mal absolut traditionell. Das änderte sich ab 1925. Ab da war Dora nicht mehr so unterwürfig. Bis dahin hatte sie hauptsächlich als Übersetzerin und in Pressebüros gearbeitet. Doch ab 1925 fing sie an, selbst zu schreiben. Was dann natürlich dazu beitrug, dass auch die patriarchale Rollenverteilung der Benjamins nicht mehr funktionierte.


1941 schreibt Dora Benjamin an Gershom Scholem, kurz nachdem sie vom Selbstmord Walter Benjamins im September 1940 erfahren hat, dass sie auch deshalb so erschüttert sei, weil sie ihre Lebensaufgabe immer darin gesehen hätte, ihn zu »beschützen«. Für mich klang das fast so, als hätte sie für Walter Benjamin eine Mutterrolle übernommen.

Ja, da ist was dran. Das ist auch ein wiederkehrendes Motiv in ihrer literarischen Arbeit: dass die Ehefrau eines männlichen Genies lebenslang sein Mutterersatz zu sein hat. In einem ihrer Artikel behauptete Dora sogar, dass die Ehefrau eines Genies eigentlich gar keine eigenen Kinder kriegen sollte, denn sie hätte ja bereits eines: den genialen Ehemann. Und man muss leider sagen, dass Walter Benjamin die Rolle des verwöhnt-genialen Kindes während der Ehe mit Dora eigentlich nie abgelegt hat.


Die Benjamins haben allerdings eine »offene Beziehung« geführt. Nicht nur er hatte diverse Geliebte, auch Dora hatte Affären. 1924 traf Walter Benjamin dann auf der Urlaubsinsel Capri die lettische Schauspielerin Asja Lacis, die in der Forschung bis heute gern zu seiner tragischen Lebensliebe stilisiert wird. Aber auch diesen Mythos entzaubern Sie in Ihrem Buch, indem sie Asja Lacis als ziemlich berechnende Edelprostituierte schildern. Sie habe in Walter Benjamin vor allem einen Geldgeber und Promi-Intellektuellen gesehen, der ihr Zugang zur Berliner Kulturelite verschaffte.

Für ihn war Asja Lacis vielleicht schon eine große Liebe. Aber für sie war Walter Benjamin umgekehrt vor allem ein Geschäftsmodell. Sie stammte aus sehr ärmlichen Verhältnissen in Lettland und wollte um jeden Preis nie mehr arm sein, sondern in Berlin in Saus und Braus leben. Dafür hängte sie sich mal an diesen, mal an jenen Mann, der in Kulturkreisen prominent war. Und wenn man ihre Erinnerungen durchliest, macht Asja Lacis aus diesem Ziel auch gar keinen Hehl. Von daher finde ich es erstaunlich, dass ausgerechnet diese Frau in der Forschung meistens sehr gut wegkommt und einen viel besseren Ruf genießt als seine Ehefrau Dora.


1930 kam es dann zum Scheidungsprozess der Benjamins, der sich zu einer »Schlammschlacht« auswuchs. Denn Walter Benjamin versuchte, die ganze Schuld am Scheitern der Ehe allein seiner Frau Dora in die Schuhe zu schieben, um ihr kein Geld zahlen zu müssen. Das misslang dann allerdings gründlich. Er hat den Scheidungsprozess 1931 verloren — und musste Dora ihr vorher eingebrachtes Vermögen zurückzahlen. Überhaupt scheint sich Dora damals endgültig von ihm befreit zu haben. Ab 1925 fängt sie an, journalistisch zu arbeiten, wird schließlich sogar Romanautorin. Provokant gefragt: War die Scheidung von Walter Benjamin also nicht vielleicht das Beste, was ihr passieren konnte?

Auf jeden Fall! Nach anfänglicher, durchaus heftiger Verzweiflung war die Trennung von Walter Benjamin für Dora ein Segen. Damit war sie endlich das moralische Verantwortungsgefühl für ihn los, nachdem er sich während des Scheidungsprozesses ja auch wirklich abscheulich ihr gegenüber benommen hatte. Sie konnte sich jetzt endlich wirklich emanzipieren und musste ihren Selbstwert nicht mehr über ihn definieren.


Walter Benjamin gilt heute als die große Heiligenfigur der deutschen Kulturwissenschaft, als visionärer Dichter-Philosoph. Wie sehr war Ihnen bewusst, dass Sie mit dieser Ehebiografie einen Lieblingsheiligen der Intellektuellen ankratzen würden?

Ehrlich, das war mir überhaupt nicht bewusst — zumindest nicht in dem Ausmaß, wie es sich inzwischen gezeigt hat. Ich scheine vor allem männliche Benjaminianer durch dieses Buch bis an die Wurzel ihrer Seele gekränkt zu haben. Und warum? Weil ich es mir erlaubt habe, den Kulturheiligen Walter Benjamin auch mal als Menschen zu zeigen. An Benjamins Verdiensten als Intellektueller rüttele ich ja gar nicht. Allerdings finde ich es schon befremdlich, dass man heute anscheinend immer noch kein einziges kritisches Wort über sein Werk sagen darf, ohne gleich einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Anscheinend steht immer noch alles, was Benjamin jemals geschrieben oder gesagt hat, im Ruf von sakrosankten zehn Geboten. Das zeigen jetzt die schwer empörten Reaktionen auf mein Buch, die ich von sogenannten Linksintellektuellen bekommen habe. Das hat mich schon sehr überrascht und betroffen gemacht.


Welche Reaktionen waren das?

Mir wurde vorgeworfen, dass ich zu viel Nähe zu Dora Benjamin entwickelt hätte und sie auf Kosten von Walter Benjamin unangemessen glorifizieren würde. Dabei habe er doch mit seinen brillanten Aufsätzen so viel bewegt in unserem Geistesleben. Von daher sei es angeblich völlig unzulässig, ihn als Privatmensch kritisch darzustellen. Darauf kann ich nur sagen: Ja, er hat sicherlich viele Autoren durch seine Schriften inspiriert, aber doch nicht als Vater und Ehemann. Das sind doch zwei völlig verschiedene Dinge!  

Eva Weissweiler: »Das Echo Deiner Frage. Dora und Walter Benjamin — Biographie einer Beziehung« Hoffmann und Campe, 368 Seiten, 24 Euro

Eva Weissweiler, 1951 in Mönchengladbach geboren, gilt als eine der profiliertesten Frauen-Biografinnen Deutschlands. Vor allem das Schicksal früh emanzipierter, jüdischer Autorinnen, deren Werk entweder durch das Exil oder die Shoah in Vergessenheit geraten ist, interessiert sie. So veröffentlichte Weissweiler zuletzt etwa eine Biografie über Luise Straus, die erste Ehefrau von Max Ernst, die 1944 im KZ Ausschwitz ermordet wurde — sowie eine Chronik über Eleanor Marx, die jüngste Tochter von Karl Marx.