Der Kronzeuge hinter seiner Maske: Die »Cum-Ex Papers« und Benjamin Frey, Foto: Anja Beutler

Glück, Geld und Gemeinschaft

Das Urbäng-Festival bespielt das Orangerie Theater mit internationalem Programm

Kaum eine Festival-Ankündigung, so es denn überhaupt stattfindet, kommt gerade ohne den Anklang des Bedauerns aus. Als im August etwa das renommierte Kampnagel-Festival in Hamburg startete, betonte man es vor allem als Signal gegenüber den Künstler*innen, dass es trotz Corona weitergeht. Vom Düsseldorf Festival las man im September eine persönliche Stellungnahme, in der die Kura­tor*innen eindrücklich das angespannte Warten auf die Entscheidung schilderten, ob man den geplanten Termin halten könne, und das Asphalt Festival fand es »gerade in diesen Zeiten« wichtig, ein Lebenszeichen zu senden.

Wer es in den vergangenen Wochen schaffte, ein mehrtägiges Programm auf die Beine zu stellen, durfte sich der Krisenfestigkeit rühmen — was man dann gerne und ausgiebig tat. Umso erfrischender ist nun der stoische Gleichmut, mit dem die Veranstalter*innen das Urbäng-Festival in Köln organisierten. Im Oktober bespielt es das Orangerie Theater, samt Innenhof, und abgesehen von Abstandsregeln und Hygienevorschriften ist von Co­­rona nur wenig die Rede. »Theater ist, wenn man trotzdem spielt«, hatte der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda vor einigen Wochen gesagt. Vielleicht ist gerade dieser Satz die perfekte Zustandsbeschreibung, mit der das Urbäng-Festival startet.

»Glück, Geld, Gemeinschaft« lautet der Titel der diesjährigen Ausgabe — und klar, es hatte Verluste gegeben. Die nordirische Künstlerin Oona Doherty musste ihre Vorstellung absagen, weil sich die Reisevorschriften in ihrem Land geändert hatten. Andere internationale Künstler*innen werden aber kommen können, aus ­Spanien, der Ukraine und sogar aus dem Libanon. »Für uns ist wichtig, dass uns etwas an den Menschen oder ihrer Kunst berührt«, sagt André Erlen, Mitbegründer des Theaterkollektivs Futur3 und des Ensemblenetzwerkes Freihandelszone, das das Festival organisiert. »Wir brauchen kein Feuerwerk zur Eröffnung, kein internationales Aushängeschild. Wir wollen einfach Projekte zeigen, an denen wir glauben, wachsen zu können.«

Steuerskandal auf der Bühne

Ein Highlight in diesem Jahr ist das Stück »Cum-Ex Papers«, das in Kooperation mit der ARD und dem Recherche-Netzwerk Correctiv den vermutlich komplexesten Finanzskandal der Gegenwart auf die Bühne bringt: Investoren und Banken bereichern sich mit phantasievollen Steuertricks auf Kosten des Sozialwesens. Ein Jahr recherchierten Journalist*innen aus zwölf Ländern im Verborgenen, Regisseur Helge Schmidt war eingeweiht. Im Stil eines Wirtschaftsthrillers fragt er, mit welcher Rechtfertigung die Banker um Benjamin Frey, jenen ersten Kronzeugen im Fall um den Finanzbetrug, eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft ablehnen. Wer empört sich darüber? Warum liegt die Strafverfolgung weit hinter den Tricksern zurück?

Den roten Faden des Stücks bildet das achtstündige Interview, das die Journalisten Oliver Schröm und Christian Salewski mit dem Whistleblower fürs Fernsehen geführt haben: einem Jungen vom Land, der ein exzellentes Jura-Examen ablegte, sich durch Testosteron-getränkte Kanzleien nach oben arbeitete und schließlich mit dem Finanzberater Hanno Berger jahrelang Cum-Ex-Geschäfte im ganz großen Stil arrangierte.

Von Beirut nach Köln

Ein Projekt, das André Erlen und seinen Mitstreiter*innen auch ganz besonders am Herzen liegt, ist das des libanesischen Künst­ler*innen-Duos Randa Mirza und Waël Kodaih. In »Strange Land« improvisieren sie frühe Fotografien und Sound-Aufnahmen aus der Arabischen Renaissance: Man sieht Strandurlaube, erstarrte Posen auf Portraits und kleinbürgerliche Walzerabende. Eine schillernde Welt, die die Glücksversprechen der Moderne annimmt und gleichzeitig vom Aufbruch erschüttert ist. »Gerade jetzt ist es für diese beiden Künstler*innen extrem wichtig, arbeiten zu können«, sagt André Erlen. Denn das Haus von Waël Kodaih liegt direkt am Hafen von Beirut, wo am 4. August 2020 der Speicher explodierte. »Bitte keine Absage«, soll Kodaih kurze Zeit später gegenüber dem Freihandelskollektiv gesagt haben, er wolle unbedingt kommen und spielen.

Politisch blickt auch die Reihe »Female Gaze« auf die Kunst. Bei dieser »feministischen Zusammenkunft« steht in diesem Jahr die aus Nordirland stammende und in Berlin lebende Tänzerin und Choreografin Sheena McGrandles auf dem Programm. In »Figures« inszeniert sie erotische Körper auf absurde Weise und war damit zur Tanzplattform 2020 geladen. »Das war ein absoluter Kracher«, erinnert sich Stephanie Thiersch, künstlerische Leitung der Kölner Kompanie mouvoir und Kuratorin für »Female Gaze«. Rebellisch und laut wird auch die Performance »Femina Saga« von Marie-Zoe Buchholz. Sie vereint Voguing, einen Tanzstil, der zu Beginn der 80er Jahre in der Ballroom-Szene der marginalisierten homosexuellen Subkultur von New York Harlem entstand, mit Poesie, Kostüm und Gesang und erzählt Geschichten aus weiblicher Perspektive.

Es seien die Themen, die sich aufdrängen und man in die Welt schreien möchte, die das Urbäng-Festival interessierten, sagt André Erlen. »Es gibt so viel, worüber wir reden müssen.«

7.–10.10., Orangerie Theater, 19.30 Uhr, Info: freihandelszone.org/urbaeng