Überlebende in Leningrad: Kampf gegen die Schockstarre

»Bohnenstange«

Kantemir Balagovs origineller Film erzählt die Geschichte zweier kriegsversehrter Frauen

Der kleine Junge ist unschlüssig: Erwartungsvoll sitzen ihm zwei Dutzend kriegsversehrter Männer gegenüber, die den Knirps gerade in einem Krankenzimmer mit der Nachahmung eines Wolfs und eines Schweins belustigt haben. Sie ermuntern ihn, nun selbst ein Tier zu mimen, zum Beispiel einen Hund. Doch nichts passiert. Bis einer der Soldaten kapiert, dass der vierjährige Pashka noch nie einen Hund gesehen hat. »Die wurden doch alle aufgegessen!« 

Wie eine Einblendung zu Beginn klarstellt, ist die Handlung von »Bohnenstange« in Leningrad angesiedelt, im »ersten Herbst nach dem Krieg«. Dieser historische Hintergrund bleibt stets präsent, da als zentraler Schauplatz ein Militärkrankenhaus dient. Die unsichtbaren Traumata des Zweiten Weltkriegs und der barbarischen deutschen Belagerung erschließen sich indes aus Nebenbemerkungen, die schlimmste Entbehrungen anklingen lassen. Die Figuren dieses Films sind also Überlebende — worunter sich bezeichnenderweise kaum noch Männer finden, die als kriegstauglich gelten könnten.

Der zweite Weltkrieg als Erinnerungsraum

Im Zentrum der Handlung stehen zwei junge Frauen, die im Militärhospital als Hilfskräfte arbeiten, nachdem sie aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen haben. Masha hat mit Iya Flugabwehrgeschütze bedient, bis die Freundin wegen einer Gehirnerschütterung aus dem Kriegsdienst entlassen wurde. Masha behauptet, an der Front geblieben und bis nach Berlin vorgerückt zu sein.

Später, wenn sie gegenüber der Mutter von Sasha ihre Heiratspläne verteidigt, wird sie allerdings eine andere Darstellung ihres Kriegsdienstes geben. Eine, die trotz Unverblümtheit mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Eben deshalb mag man sich wundern, dass der russische Filmemacher Kantemir Balagov als literarische »Hauptinspiration« für seinen zweiten Spielfilm den Dokumentarroman »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht« nennt, mit dem Swetlana Alexjiewitsch in den 1980er Jahren die lange verdrängte Kriegsrealität von einer Million Soldatinnen ans Licht brachte. Jedenfalls können Masha und Iya kaum als repräsentativ für sowjetische Soldatinnenschicksale gelten. Umgekehrt wirkt die Darstellung des Nachkriegselends aber auch niemals plakativ.

Anti-realistischer Kriegsfilm

Zur Vielschichtigkeit trägt eine Inszenierung bei, die sich realistischen Konventionen widersetzt: Das in engen Innenräumen angesiedelte Geschehen ist zumeist in gedämpftes Licht gehüllt, wobei als starke Farbakzente sattes Grün und Rostrot wirken. Umso reizvoller ist der Kontrast zur kühlen Klarheit, die den feudalen Wohnsitz von Sashas Eltern prägt, in dessen großzügigem Ambiente Ksenia Seredas Kamera vorübergehend ihre Nervosität ablegt.

Der größte Reiz dieses originellen Films ergibt sich jedoch aus den Widersprüchen, die alle Figuren offenbaren — und die wohl als Symptome von Kriegstraumata gelten können. Da der einfache, aber zugleich verschlungene Plot auf der schrittweisen Offenlegung solcher Facetten aufbaut, sollte man so wenig wie möglich über ihn verraten. Nur so viel: Masha findet nach ihrer Heimkehr aus dem Krieg sowohl ein Motiv als auch ein Mittel, um Iya zur Leihmutterschaft zu nötigen — was die intensive Freundschaft der Frauen naturgemäß verkompliziert.

Zwar erklärt der Filmtitel die großgewachsene Iya zur Hauptfigur, doch das Drehbuch des erst 29-jährigen Balagov und Alexander Terekhovs betont von der ersten Szene an die Beschränktheit der Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit dieser Frau, die infolge einer Kriegsverletzung regelmäßig in eine Schockstarre verfällt. Umso mehr kann sich das Charisma der später auftretenden Masha entfalten. Jedenfalls trifft man im Kino selten auf eine Figur, die so glaubhaft gegensätzlichste Eigenschaften vereint: Lebenshunger und Erschöpfung, Verletzlichkeit und Abgebrühtheit, Bodenhaftung und Verblendung, Herzenswärme und Kaltblütigkeit.

(Dylda) RUS 2019, R: Kantemir Balagov,
D: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov,130 Min.