Forscherinnengeist und stille Einkehr: Lucrecia Dalt

In Zungen reden

Lucrecia Dalt kreuzt Songs und Field Recordings und steckt voller Geschichten

Als die kolumbianische Klangküns­tlerin Lucrecia Dalt vor drei Jahren auf dem New Yorker Label RVNG Intl. ihr von Presse und ­Publikum gleichermaßen begeistert aufgenommenes Album »Anticlines« veröffentlichte, konnte sie bereits auf über zehn Jahre künstlerische Praxis und fünf Alben zurückblicken. In dieser Zeit hat sie ihre eigene künstlerische Sprache kreiert, für die sie ihre Faibles für ­geologische Fragestellungen und elektronische Klangerzeugung zusammenbrachte.  So erschuf sie Sound- Artefakte, die das Ergebnis neugieriger Forschung als auch kontemplativer Reflexionen sind. Jetzt ist ihr neues Album »No era sólida« erschienen, das sie in den kommenden Monaten dank ihres flexiblen Bühnenkonzepts trotz Corona in Europa aufführen wird — auch in der Kölner Philharmonie.


Lucrecia Dalt, Corona hat auch für Sie einen massiven Einschnitt in ihr Leben als Musikerin bedeutet. Glück­licherweise konnten Sie aber bereits wieder erste Auftritte geben. Fühlen sich die Konzerte denn anders an als vor Corona?

Für mich bedeutet auf der Bühne stehen einen sehr aktiven und mit hohem Energieauf­kommen verbundenen Akt. Ich beför­dere mich selbst in einen ekstatischen Zustand, in dem ich die rare Chance nutze, meine Musik mit einem Raum und den Zuschauern in Beziehung zu setzen — mit der Hoffnung, dass diese von meiner Musik berührt werden. Seit Corona bin ich bislang zweimal aufgetreten und beide Konzerte fühlten sich intensiver an als zuvor. Plötzlich wieder Menschen dabei zu beobachten, wie sie zusammen kommen, hat mich erneut in einen rauschartigen Zustand versetzt.


Ihre Musik verbindet drei Dimen­sionen: Field Recordings, abstrakte Soundscapes und eine sehr emotionale persönliche musikalische Impressionen. Auf dem Papier klingt das erstmal nach einer sehr unwahrscheinlichen Ästhetik. Wie empfinden Sie selbst den Prozess, der zu Ihrem Sound führt?

Ich weiß, was Sie meinen. Es fühlt sich manchmal frustrierend an, diese strukturellen Probleme unserer Gesellschaft wahr­zunehmen. Noch immer interagieren und beeinflussen sich unterschiedliche künstlerische Felder viel zu wenig, sollen Genres sich nicht mischen. Ich verstehe das nicht. Es is doch ein Vergnügen, wenn man alle möglichen Einflüsse und Quellen kombiniert und diese harmonisieren. Während der Arbeit an »No era sólida« stieß ich auf einen Text der Komponisten Maryanne Amacher, den ich als Segnung empfand, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Sie sagt darin, sie glaube nicht, dass es in der Zukunft weiter einen so tiefen Riss zwischen Pop und alternativen Musiken geben werde: »If art music continues, maybe the only distinction will be that people doing art music might design worlds that somehow are more specialised or exotic or even have watermarks because music no longer will be made for millions.«


In der Alten Feuerwehrwache in Köln führten Sie vor zwei Jahren ihr Album im Rahmen eines Workshops auf, beim Sonar 2019 gaben Sie mit zwei Handvoll ProtagonistInnen im Mies-van-der-Rohe-Pavillon eine Performance, und beim diesjährigen CTM Festival inszenierten sie eine Klanginstallation im Botanischen Garten in Berlin. Ist dieses Spektrum lediglich der eigenen Neugier­de geschuldet, oder spielt auch der Markt, der dauernd ein neues Ereignis erwartet, eine Rolle?

Das ist in der Tat leider auch das Ergebnis von Marketingprozessen. Alle wollen etwas Exklusives, das man noch nie zuvor wo gesehen und erlebt hat — wir KünstlerInnen müssen eine Grenze finden, was wir mitmachen und was nicht. Wobei ich die Herausforderung schätze, mich an neue Formate anzupassen. Mich zieht es mehr und mehr zu etwas hin, das ich als experimentelle sound happenings benennen möchte. Ich liebe es mit den spezifischen Orten eine Ver­bindung einzugehen, oder auch mit technischen Settings wie einer Multi-Kanal-Anlage. Nicht wegen der Technologie an sich, sondern wegen der Möglichkeit sehr kontextualisierte Narrative zu entwickeln für den jeweiligen Ort. So kann man im besten Fall etwas ­kreieren, das länger als ein singu­läres Konzert bes­tehen bleibt, etwas das auch die Körpererfahrung der BesucherInnen nachhal­tiger beeinflusst.


Können Sie bei einem Album wie ­»No era sólida« ausmachen, wo die Sound­reise ihren Ursprung gefunden hat?

Ja! Das erste Stück, das ich für das Album produziert habe, war »Seca«, es kam zu einem Zeitpunkt zu mir, als ich gerade viele Performances für »Anticlines« gegeben hatte und mich fragte, wie ich meine Stimme wieder befreien könnte. Ich dachte damals an den französischen Avantgarde-Musiker Ghedalia Tazar­tes und begann ein Set von Patches zu entwerfen, um meine Stimme zu prozessieren. Ich muss gestehen, ich bekam eine Gänsehaut und wusste sofort, dass ist die Prämisse für mein kommendes Album.


Ich spreche kein Spanisch, was mir den Zugang zum expliziten Narrativ der Texte leider erschwert. Aber ich fühle mich eingeladen zuzuhören, da die Worte einen mysteriösen Klang haben, der mich neugierig macht. Denken Sie, es gibt aufgrund der unterschiedlichen sprachlichen Teilhabe auch unterschiedliche »Klassen« an HörerInnen ihrer Musik?

Nur das letzte Stück des Albums, »No era sólida«, ist auf Spanisch, die anderen Stücke werden im Glossolalia-Stil vorgetragen, Zungenrede. Ich liebe den Effekt, den diese Musik auf die Welt auswirkt — ich habe schon einige Anfragen nach dem Text von »Disuelta« bekommen, Google hat sogar eine eigene Lesart kreiert. Während der Albumproduktion bin ich auf ein passendes Zitat von Irena Klepfisz im Buch von Gloria Anzalduas gestoßen: »… and our tongues have become dry, the wilderness has dried out our tongues and we have forgotten speech …«  Für mich war es ein sehr befreiender Ansatz, keine reale Sprache zu benutzen.

Tonträger: »No era sólida« ist auf Rvng Intl. / Cargo erschienen. Konzert: 4. November, Kölner Philharmonie, 21 Uhr