Jetzt auch mit Maske: Louwrens Langevoort ist seit 2005 Intendant der Kölner Philharmonie, Foto: KölnMusik/Matthias Baus

»Wir arbeiten an anderen Konzepten«

Zwischen Corona und Comeback: Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner ­Philharmonie, zieht eine erste Bilanz der letzten Monate

Die Philharmonie gehörte in Deutsch­land zu den ersten Konzert­­orten überhaupt, die Ende Mai wieder eröffneten. Das Ereignis wurde euphorisch bejubelt, das Gürzenich Orchester, das das Comeback-Konzert gab, spielte ein eigens für dieses Ereignis konzipiertes Programm.

Von einem Normalbetrieb waren diese Wochen im Frühsommer allerdings weit entfernt, die Aussichten für Herbst und Winter sind gemischt: nicht nur was die Entwicklung des Infektionsgeschehens betrifft, sondern auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation. Die Philharmo­nie wird betrieben von der Köln­Musik GmbH, diese wird zwar zu neunzig Prozent von der Stadt Köln getragen (und zu zehn Prozent vom WDR), aber

in erster Linie wirtschaf­tet sie eigenverantwortlich. Was in die­sen Zeiten eine große Herausforderung darstellt. Im Interview gibt sich Langevoort tatkräftig und entschlos­sen.


Herr Langevoort, blicken wir zurück — Anfang März: Das  Frühjahrsprogramm stand an, das Acht-Brücken-Festival sollte Anfang Mai stattfinden — und dann mitten im laufenden Betrieb: der Lockdown. Wie habe Sie die Zeit erlebt?

Überraschend war es eigentlich nicht, dass es zum Lockdown kam. Wenn man die Berichterstattung aufmerksam verfolgt hätte, wie das Virus aus dem asiatischen Raum langsam, aber sicher Europa immer näher kam, hätte man das ahnen können. Viele habe es einfach auf die leichte Schulter genommen, wir alle haben doch gehofft, es würde uns hier nicht so schwer treffen. Aber es hat uns schwer getroffen. Wie alle anderen Kulturveranstalter wurden wir regelrecht überrollt: Wir mussten sehr viele Konzerte absagen, verlegen, neue Termine suchen — in dem damaligen Wissen, dass der Zustand zwei Monate andauern würde. Jetzt können wir über 15 Monate reden, immer noch mit einem Fragezeichen. Jede Planung ist mit enormer Unsicherheit verbunden. Aber wir haben uns an die Umstände herangetastet und ab dem 30. Mai eine Konzertreihe für Kammermusik und kleine Orchester gestartet, mit jeweils speziellen Programmen. Die musikalischen Umsetzungen waren durchweg sehr schön. Der größere Abstand der Musi­ker auf der Bühne hatte keine schlechten Auswirkungen auf die Musik.


Was ist für den Herbst zu erwarten?

Seit Anfang Mai arbeiten wir eigent­lich schon am Herbst- und Winterprogramm — unter der Fragestellung, wie wir größere Orchester auf die Bühne bekommen können. Mittlerweile sind 50 Musikerinnen und Musiker erlaubt, das reicht nicht für eine große Strauß- oder eine große Mahler-Aufführung, ­aber es ist passt für Brahms, Tschaikowsky oder Dvořák. Aber es geht ja nicht nur um die Musiker. Es gibt einfach viele Leute, die machen sich immer noch große Sorgen um ihre Gesundheit, das ist absolut verständlich und darauf muss man Rücksicht nehmen. Wir können mittlerweile 1000 Personen in den Saal lassen, das ist die Hälfte unserer Kapazität. Strenge Hygieneregeln gelten natürlich immer noch, es gibt keine Pausen, keine Gastronomie, zwischen den Personen wird immer ein Sitzplatz freigelassen. Trotzdem können wir nicht voraussetzen, dass sich unser Pub­likum per se sicher fühlt. Dass wir wieder so viele Leute in den Philharmonie lassen dürfen, ist kein Selbstläufer: Wir müssen das Vertrauen unseres Publikums auch wieder zurückgewinnen. Angst soll kein Grund sein, nicht ins Konzert zu kommen.


Grundsätzlich ist es doch toll, dass überhaupt wieder Konzerte stattfinden: Das ist die aktuelle Stimmung unter Musikern oder auch Journalisten. Ob jetzt 600 oder 900 Leute auf den Stühlen sitzen, ist doch — zumindest in diesen Wochen — zweit­rangig.

Nicht ganz. Auch wir sind auf die Einnahmen angewiesen, und wenn wir bei einem Konzert mit 1000 Besuchern kalkulieren, aber nur 600 kommen, dann ist das ein empfindlicher Ausfall an Einnahmen. Den man auch nicht über eine Preiserhöhung kompensieren könnte — oder sollte. Natürlich war es wichtig, dass die Künstler wieder arbeiten konnten, am Anfang ging es tatsächlich nicht um Auslastungszahlen. Aber wir können dieses Prinzip nicht ein ganzes Jahr lang durchhalten.


Aber ist das nicht eine politisch-­gesellschaftliche Frage? Meint: ist die Politik denn nicht in der Pflicht, zum Beispiel einen möglichst hochklassigen Konzertbetrieb zu garantieren?

Ja, die Politik hilft, das ist keine Frage. Im Gegenzug sind wir aber in der Pflicht, kein Geld zu verschwenden. Wir müssen dafür sorgen, dass wir das Beste aus dieser Zeit machen — das gilt für die Politik, aber auch für unsere Seite.


Finden Sie Gehör bei der Politik?

Ja, Verständnis und Empathie. Wir ha­ben Ende September eine Aufsichtsrats­sitzung. Da werden wir auch die wirtschaftlichen Perspektiven besprechen. Auf die Sitzung bin ich schon sehr gespannt, sie wird nämlich die erste nach den Wahlen sein.


Wie fällt denn Ihre künstlerische Bilanz der letzten Wochen und Monate aus?

Wunderbar. Ich kann nichts anderes sagen. Das hohe künstlerische Niveau besteht ungebrochen weiter, die Energie der Musikerinnen und Musiker ist großartig. Viele der Ensembles, die in den letzten Wochen bei uns auf der Bühne standen, spielten das erste Mal seit fünf, sechs Monaten wieder vor Publikum. Man muss sich das klar machen, die meisten sind Freiberufler, die sind auf die Einnahmen aus ihren Konzerten angewiesen. Und die fielen aus, unwiderruflich. Das ist ein Tiefschlag, unsere Gesellschaft hat da noch nicht die richtigen Instrumente, um darauf angemessen zu reagieren. Und trotzdem — jetzt sind sie wieder auf der Bühne und spielen so beseelt wie früher auch.


Trotz des Abstands auf der Bühne?

Das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist der Klang des Saals, und der ist gut. Der ändert sich ja nicht, wenn die Musiker zwei Meter voneinander entfernt sitzen.


Viele Musiker dürfen noch nicht reisen, weil immer noch etliche Beschränkungen und Quarantäne-Auflagen den Reise- und Tour-Alltag reglementieren. Das hat Auswirkungen auf den Konzertbetrieb vor Ort. Sehen Sie eine Renaissance des Lokalen?

Renaissance würde heißen, dass man die lokalen Künstler vergessen hätte. Aber das ist nicht der Fall. Nehmen Sie die Orchester, die einspringen, weil andere nicht touren können: die Dresdener Staats­kapelle, die Berliner Philharmoniker, das Mahler Chamber Orchestra — Ensembles, die ohnehin bei uns auftreten und die weltweit reno­mmiert sind. Deshalb kann ich, was Barock, Klassik und Neue Musik angeht, nicht von einer Renaissance reden. In Deutschland gibt es so viele tolle Ensembles, vielleicht sogar die besten — und die spielen jetzt eben zweimal im Jahr bei uns.


Ein entscheidender Faktor Ihrer Arbeit ist beschädigt: die langfristige Planung. Nehmen wir das Acht-Brücken-Festival, da reichen die Ideen schon bis ins Jahr 2025. Können Sie weiter in diesen langen Bögen planen?

Wir reden über komplexe musikalische Prozesse. »Acht Brücken — Musik für Köln« ist ein Festival mit Uraufführungen, ich kann eine Komposition aber nicht zwei Monate vorher in Auftrag geben, zwei Jahre ist eine realistische Größe. Dann kommt hinzu, dass ein Komponist auch noch andere Aufträge annimmt, so sind wir schnell bei drei Jahren. Das wird sich auch in Zeiten von Corona nicht ändern, denn es ist einfach die Arbeitsweise von Komponisten und Musikern. Anders ist das mit mit Orchestern und Ensembles. Die Berliner Philharmoniker können am 5. November nicht in New York spielen, und ich bin froh, dass sie bei uns spielen. Aber in dieser Situation stecken gerade alle! Alle müssen ein wenig improvisieren, und dadurch entsteht etwas Neues. Was das nächste Jahr angeht, bin ich opti­mistisch, dass wir dann einen Impfstoff besitzen. Meine Hoffnung ist, dass die Spielzeit 21/22 so normal wird wie 18/19.


Die Philharmonie fördert stets auch gegenwärtige Musik und Klangkunst. Die würde sich vielleicht schon mit der Corona-Krise auseinandersetzen. Was denken Sie, kommt es zu einer Corona-Ästhetik auch in der Ernsten Musik? Corona-Ästhetik?

Das ist zu stark, das denke ich nicht. Jetzt erleben wir eine Hoch­zeit der Kammermusik, aber die gab es natürlich schon vor Corona. Man muss eher von einer Corona-Pragmatik reden — nämlich von Konzerten ohne Pause. Die implizieren künstlerische Fragen: Wie lange kann man die Konzentration des Publikums fordern? 70 Minuten? 90 Minuten? Wie stelle ich die Stücke zusammen? Sie folgen ja jetzt direkt aufeinander. Ich wäre eher gegen einen Kontrast von sehr unterschiedlichen Stücken und würde die Zusammenstellung fließender gestalten.


Wie kann sich die Philharmonie jetzt in der Stadt positionieren?

Das ist natürlich schwierig, weil wir unsere Veedel-Konzerte zunächst absagen mussten. Mit ihnen wollen wir ein Publikum erreichen, dass vielleicht nicht so häufig zu uns ins Haus kommen kann oder uns noch nicht kennt. Wenn wir nun Veedel-Konzerte vor vielleicht zwanzig Leuten hätten geben müssen, weil die Hygie­nevorschriften nichts anderes erlauben, dann würden sie ihrem Zweck nicht gerecht, dann wären das privilegierte Veranstaltungen. Nun ist es uns aber möglich, wieder Veedel Konzerte zu veranstalten, darüber sind wir sehr froh. Wir arbeiten an anderen Konzepten. Wir haben zuletzt beim Barockmusik-Festival »Felix!« einen kostenlosen Konzerttag oder auch ein Ensemble präsentiert, das auf der Straße gespielt hat. Das sind Aktionen für die Öffentlichkeit, die wir weiterverfolgen werden.

Über die Philharmonie hinausgeblickt: Denken Sie, es kommt zu einem Orchestersterben?

Ganz allgemein: Es hängt von der Geschwin­digkeit ab, mit der das Konzertleben wieder hochfährt. Jetzt kann man noch wenig sagen, in einem halben Jahr wissen wir mehr. Wir brauchen dringend Regelungen für Freiberufler. In Ländern, in denen es keine dauerhafte Subventionierung für große Orchester gibt — oder nur für ganz wenige —, wie in den USA oder Großbritannien, könnte es sehr bitter werden.


Viele Gelder fließen derzeit in die Digitalisierung von Auftrittsformaten, übrigens zum Leidwesen vieler Künstler. Die Philharmonie ist ja schon digitalisiert: Sie bietet unter philharmonie.tv Live-Streams von Konzerten an. Werden Sie das digitale Angebot ausbauen?

Wir wollen die Teilnahme von allen an unseren Konzerten ermöglichen, das ist die Haltung der Philharmonie. Wir sind ein Teil der städtischen Öffentlichkeit und wollen uns deshalb so niedrigschwellig wie möglich präsentieren. Wer ein Konzert verpasst hat, sich keine Karten leisten konnte, vielleicht auch nur ein Stück aus einer Aufführung — noch mal — hören will, kann auf unser Streaming-Angebot zurückgreifen. Aber philharmonie.tv ist eine Ergänzung oder Erweiterung unseres Angebots, keine Alternative, kein Ersatz! Es reicht nicht an die Konzentration, die Faszination, auch die Gemeinschaftlichkeit eines Konzertes heran. Ein Konzert ist ein sozialer Vorgang, der Leute miteinander verbindet. 2000 Leute vor dem Bildschirm — zu unterschiedlichen Uhrzeiten — sind eigentlich gar nicht miteinander verbunden. Digitalisierung ist wichtig, allein schon zu  Dokumentationszwecken. Aber das Konzert bleibt unser wichtigstes Ziel.


Aus unserem Gespräch nehme ich Ihren Optimismus mit. Woher nehmen Sie den? Sollte ich mich lieber in den Rhein werfen?

Natürlich nicht. Sehen Sie, ich frage mich, wie ich am besten helfen kann, wie ich mich am besten für die Sachen, die mir wichtig sind, einsetzen kann. Wenn ich in den Rhein spränge, wäre niemandem geholfen. Oder anders gesagt: Pessimismus können wir uns in der jetzigen Situation nicht erlauben.