Arm aber im Einklang: Die Familie aus Radu Ciorniciucs »Acasā — My Home«

Rundes Jubiläum

Das »Film Festival Cologne« zeigt sich politisch, setzt auf bewährte Reihen und bietet ein breites Spektrum an Dokumentarfilmen — im Kino

Drohnenflüge sind in vielen Filmen der letzten Jahre zu beobachten — ein fast schon inflationär gewordenes und oft überflüssiges Stilmittel. Aber dieser Flug der Kamera passt. Er führt von den zwischen Wasserläufen und hohem Schilf gelegenen Hütten einer rumänischen Roma-Familie so hoch in die Lüfte, bis wir jenseits von Damm und Kanal eine dicht bebaute Stadt sehen, die sich im Bild bis zum Horizont erstreckt. Unten lebt der halbwüchsige Vali mit seinen Eltern, acht kleinen Geschwistern, einigen Schweinen, Hunden, Katzen, Tauben und anderem Getier. Die Familie ist arm, wirkt jedoch wie eine im Einklang mit ihrer Umgebung funktionierende, in sich ruhende Gemeinschaft. Wenn Vali abends mit einer aus einem Schilfrohr selbst gebauten Angel auf dem Schlauchboot fischt, leuchten die Lichter der Bukarester Betonburgen im Hintergrund fast romantisch über das Wasser. Vater Gica hat sich als Führer durch die lokale Natur einen Namen gemacht, die von mildtätigen Spendern geschenkten Bilderbücher wirft er stolz ins Feuer. Dann wird die Gegend in einen Naturschutz-Park umgewandelt. Die Familie muss ihr Quartier aufgeben und in die Stadt ziehen, wo nicht nur das bisherige »naturnahe« Verhalten anstößig wird.

»Acasă — My Home« heißt der Dokumentarfilm von Radu Ciorniciuc, der das Leben der Familie Enache über vier Jahre begleitet und ebenso differenziert wie verdichtet die Widersprüche von städtischer Modernisierung, Sozialarbeit und familiärer Zusammengehörigkeit zeigt. Zu sehen ist die mehrfach preisgekrönte deutsche Koproduktion in der Best of Cinema-Reihe des Film Festival Cologne, das im Oktober ein geschrumpftes aber dennoch breit gefächerten Programm in verschiedenen Kinos der Stadt zeigt. Dreißig Jahre alt wird das einst als ­Cologne Conference gegründete Festival in diesem Jahr. Neben »Acasă« glänzt es zum Jubiläum mit auffällig vielen weiteren sehenswerten internationalen und regionalen Produktionen aus dem dokumentarischen Bereich.

So taucht »Der Ast auf dem ich sitze« aus der Festivalreihe Made in NRW von Luzia Schmid tief in die Geschichte des Schweizer Steuerparadieses Zug ein. Sie wählt den Ansatz der eigenen familiären Verstrickung, ihre Eltern betreuten als Anwälte dutzende Briefkastenfirmen. Perfekt ins traditionell auch medienreflexiv verortete Konzept des Cologne Film Festivals passt »Mit eigenen Augen«, ein Dokumentarfilm von Miguel Müller-Frank, der die Produktion einer Ausgabe des WDR-Magazins Monitor begleitet — von den ersten Ideen und Hinweisen über mögliche Themen bis hin zum Stress der letzten Vorbereitungen und zur Sendung selbst. Dazwischen stehen Redaktionskonferenzen und Telefonate, Spaß und Erschöpfung. Dabei spitzt sich die Recherche auf die Interpretation eines mittlerweile medienbekannten Fotos zu, das den mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke bei einem Rechtsrock-Festival im sächsischen Mücka zu zeigen scheint.

Die so entstehende Spannungskurve macht zugegebenermaßen erst mal etwas misstrauisch gegenüber der Wahrhaftigkeit des Films. Doch es war wohl einfach dokumentarisches Finderglück. »Mit eigenen Augen« gibt mit dem geduldigen Blick auch auf scheinbar nebensächliche Details seltenes Anschauungsmaterial von der Realität journalistischer Arbeit, zeigt aber auch deutlich, unter welchem Zeit-, Konkurrenz- und Rechtfertigungsdruck investigative Journalisten selbst bei den Öffentlich-Rechtlichen arbeiten müssen. Gut studieren lässt sich auch die strukturelle Geschlechterungleichheit, jedenfalls in diesem Team.

Das Film Festival Cologne zeigte sich schon lange vor dem großen Boom der letzten Jahre offen gegenüber seriellen Formaten. Im dokumentarischen Bereich diesbezüglich bemerkenswert dieses Jahr die BBC-Produktion »Once Upon a Time in Iraq«. Unter der Regie von James Bluemel erzählt sie in fünf Episoden anhand von Berichten direkt Beteiligter und Betroffener die US-Invasion 2003 neu — und findet aussagestarke Protagonist*innen.  

Serialität ganz eigener Art darf man wohl der Arbeit Frederick Wisemans attestieren. Der große alte Mann des US-Dokumentarfilms widmet sich seit mehr als 50 Jahren der Untersuchung institutioneller Zusammenhänge. Dabei legt der mittlerweile 90jährige Regisseur in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend ein vielleicht von Altersweisheit gefördertes Interesse an diskursiver Vermittlung zutage. Nach der New Yorker Public Library (»Ex Libris«) und dem US-Kleinstadtleben (»Monrovia, Indiana«) untersucht er in »City Hall« nun mit systematischer Gründlichkeit Verwaltung und Einrichtungen seiner Geburtsstadt Boston — von der Abfallentsorgung über die Budgetierung es Haushalts und das Ringen mit Washington bis zum Veteranentreffen.

Dabei stellt Wiseman in viereinhalb Stunden ebenso ausführlich interne Gremien und Verwaltungsverfahren vor wie die Orte, an denen Bürger*innen in Kontakt mit der Stadt kommen. Ob Wohlfahrtsküche, Musikschule oder die Stelle, wo man wegen Park-Knöllchen vorstellig werden kann. Geredet und ausgehandelt wird auch sonst viel, die Zuschauer*innen sollten gut zuhören können und Geduld mitbringen. Aber da der demokratische Bürgermeister Martin J. Walsh sich in seiner Stadt programmatisch, praktisch und einigermaßen erfolgreich für sozialen Ausgleich, Verständigung, Vielfalt und Diversität einsetzt, muss man nicht sehr feinsinnig sein, um Wisemans großen Film auch als entschiedenes politisches Statement zu verstehen.

 

Film Festival Cologne

Ein Jubiläum unter besonderen Vorzeichen: Seit dreißig Jahren gibt es das Film Festival Cologne (bis 2015 unter dem Namen Cologne Conference), dieses Jahr wird es eines der ersten großen Film-events in Deutschland sein, das nach dem Corona-Lockdown wieder in den Kinos stattfinden wird. Um ungefähr ein Drittel ist das Programm geschrumpft, um den Corona-Schutzmaßnahmen gerecht zu werden. Aber an der Grundstruktur hat sich wenig geändert. Die fünf Hauptreihen Best of Cinema Fiction bzw. Documentary, Look, Top Ten TV und Made in NRW kommen dabei fast auf die Anzahl der Filme wie in den Vorjahren. Einige Höhepunkte des Programms sind Josephine Deckers Schriftstellerinnen-Psychogramm »Shirley«, Kelly Reichardts Alternativ-Western »First Cow« und Julien Temples berührende  Doku »Shane« über den ehemaligen Pogues-Sänger Shane MacGowan. Der Filmpreis Köln geht dieses Jahr an Dominik Graf, dem eine kleine Hommage gewidmet ist, Höhepunkt hier: der Director’s Cut seines zu spätem Ruhm gelangten Thrillers »Die Sieger«.

Infos: filmfestival.cologne