Poesie statt Posen

Ema

Pablo Larrain findet seinen eigenen Rhythmus auf den Spuren einer Tänzerin in Valparaiso

Eine Hafenstadt bei Nacht. Eine Verkehrsampel steht in Flammen. Eine junge Frau blickt auf sie, geht dann seelenruhig weg. Es sind rätselhafte, poetische Bilder, mit denen dieser Film beginnt. Es dauert eine Weile, bis sich aus ihnen doch ein Zusammenhang herausschält. Aber dieser fragmentarische, dezentrierte Eindruck hat Gründe. Er entspricht den Figuren und Situationen, von denen Pablo Larrain erzählt. Mit seinem siebten Spielfilm kehrt der Chilene nach seinen Hollywood-Ausflug mit »Jackie« wieder nach Chile zurück, nach Valparaiso.


Im Zentrum steht die Titelfigur Ema, eine junge Frau, gespielt von der charismatischen Mariana Di Girolamo, die als Tänzerin arbeitet, und nebenbei an Schulen unterrichtet. In kurzen Szenen, die sich schnell abwechseln, in der Chronologie springen, und getrieben von der modernen Musik von Nicholas Jaar, schält sich folgendes heraus: Ema war mit dem Choreographen Gaston zusammen; sie hatten ein Kind adoptiert. Doch Polo entpuppte sich als destruktiv und gefährlich: Er verbrannte das Gesicht von Emas Schwester schwer, worauf Ema und Gaston den Jungen den Behörden zurückgaben. Die Umgebung bestraft vor allem Ema dafür: An der Schule wird sie von den übrigen Lehrern gemobbt.


Ema, eine Millennial der besseren Art, also ohne Skrupel und Hypermoralismus, erscheint als Drifterin. Ema will kein »good girl« sein, wir folgen ihr durch die Nacht, und ahnen, dass sie schon längst über Wege nachdenkt, Polo, der bei neuen Adoptiveltern lebt, zurückzugewinnen. Der Film flaniert auf ihren Spuren durch ein poetisch verfremdetes Chile von heute. Das ist nicht prätentiös, sondern sehr beiläufig erzählt. Man sieht sie tanzen, in Bars und auf Partys, bei Sex mit Männern wie Frauen, mit Freunden. Und sie kommt ihrem Ziel näher.


Unterbrochen wird das immer wieder von Bild-Montagen, Passagen, in denen wir der Figur einfach folgen und sich Szenen lose aneinanderreihen. Von Tanzszenen, die mit Poesie aufgeladen sind. Und einem Flammenwerfer der die Leinwand kurz in ein riesiges Feuer taucht. Denn Ema wird zum Feuerteufel, für sie ist das Ernst und Spaß zugleich, ein feuriger Exzess.


Auch sonst ist »Ema« ein Kino-Märchen im Delirium. Larrain propagiert hier ein Kino, das die Idee einer photographischen Reproduktion der äußeren Welt ablehnt und dynamische Empfindungen zeigen will — nicht einen Gegenstand, sondern einen Rhythmus, eine Atmosphäre. Und das ist so rätselhaft wie schön.


(dto) CHL 2019, R: Pablo Larrain, D: Mariana Di Girolamo, Gael Garcia Bernal, Santiago Cabrera, 107 Min.