Schlusstrich unter Bindestrich: Johny Pitts, Foto: © Jamie Stoker

Reise mit unerwar­tetem Ausgang

Johny Pitts begibt sich in »Afropäisch« auf die Spuren einer neuen europäischen Identität

Was würde es für ein europäisches Selbstverständnis bedeuten, wenn die kulturelle Geschichte des Kontinents nicht ausschließlich weiß konstruiert wäre, wenn das Bild des weißen Europäers stets mangelhaft und falsch wäre?

Für den Autor, Fotografen und Journalisten Johny Pitts aus der alten englischen Industriemetropole Sheffield stellte sich diese Frage früh in seinem Leben. Als Kind eines Schwarzen US-Amerikaners und einer weißen Engländerin, der sich selbst als Schwarz identifiziert, fühlte er sich jahrelang als unvollständig und stets »mit Bindestrich« (also »afro-englisch«). Dies änderte sich als er erstmals mit dem Wort »afropäisch« konfrontiert wurde — der Begriff wurde von David Byrne,  Frontmann der Talking Heads, und Marie Daulne, der belgisch-kongolesischen Frontfrau der Musikgruppe Zap Mama, geprägt. Anfangs verstand Pitts unter »afropäisch« eine Erfolgsgeschichte: die schwedische Musikerin Neneh Cherry — afropäisch und erfolgreich; die deutsche Soulsängerin Joy Delanane — ebenso.

Doch ein Besuch im berühmt-berüchtigten »Dschungel von Calais«, dem Auffanglager an der französischen Küste, das zwischenzeitlich von Tausenden Flüchtenden bewohnt wurde, zeigte ihm auch die andere Seite des Begriffs. Hier wurde ihm klar, dass die Geschichte der Wechselbeziehung zwischen Afrika und Europa immer auch auf Ausschluss und Ausbeutung basierte — bis zum heutigen Tag.

Zwischen diesen beiden Polen, zwischen Empowerment und den tödlichen Flüchtlingsrouten durchs Mittelmeer, macht Pitts eine Reportage-Tour durch die Geschichte Europas und der heutigen Realität Schwarzer Europäer. Von Paris, wo er einerseits mit den Schwarzen Klofrauen, andererseits mit den Spuren des Essayisten James Baldwin konfrontiert wird, bis nach Moskau und der Tilgung der Schwarzen Haut des Nationaldichters Alexander Puschkin aus den Geschichtsbüchern, besucht Pitts europäische Städte und Länder und ihre Kolonialgeschichten. Die Reportage »Afropäisch« lebt davon, dass jemand, der vorher nur eine Ahnung hatte, wonach er sucht, alte Narrative verwirft und die Augen für die Realitäten Europas öffnet. Eher unterhaltsam als verkopft und zunehmend (selbst-)kritisch, entsteht ein Bild aus Beobachtungen, Treffen und Situationen, das letztlich dann doch zwischen Chance und Misere, zwischen Zukunftsvision und Vergangenheitsbewältigung changiert. Wo andere Bücher zum Thema durch Analyse brillieren, wird »Afropäisch« von der Verve des Autors zusammengehalten, die dieses Buch zur Leseempfehlung macht.

Johny Pitts: »Afropäisch. Eine Reise durch das Schwarze Europa«, Suhrkamp, 461 Seiten, 26 Euro