»Menschen hungern mitten in Europa. Unfassbar«

Die Zustände im Flüchtlingslager Moria sind katastrophal: Kein fließendes Wasser, keine ­medizinische Versorgung, die Geflüchteten suchen in den abgebrannten Resten des Camps nach Essen und Trinken. Bamdad Esmaili war im September eine Woche dort

Schon bei unserer Ankunft in Moria haben wir den ersten Schock erlebt. Wir sind am 11. September, zwei Tage nach dem Brand des Lagers, nach Lesbos geflogen. Ich war schon vor ein paar Jahren dort, um über die Zustände im Lager zu berichten. Diesmal sind wir nachts um 23 Uhr im Dunkeln dort angekommen. Direkt hinter der Polizei­sperre haben wir die ersten Bewohner*innen getroffen. Es war ruhig und friedlich, manche haben auf ihre Smartphones geschaut, andere geschlafen. Dann haben wir realisiert: Diese Menschen warten nicht auf etwas, sondern sie leben hier, mitten auf der Straße.

Wir Journalisten sind in Moria in einer doppelten Rolle. Wir berichten von dort, sind aber auch eine Quelle für Informationen. Viele im Camp bekommen die Diskussionen in Deutschland nicht mit. Eine Frau meinte sogar, Deutschland würde jetzt alle Geflüchteten aus Moria aufnehmen. Sie hatte die Protestaktion, bei der 13.000 leere Stühle vor dem Bundestag aufgestellt wurden, falsch interpretiert. Viele Geflüchtete kommen aus Afghanistan. Sie sprechen Persisch, das ist auch meine Muttersprache. Wir mussten deshalb manchmal zwischen den Menschen im Camp und der Polizei übersetzen.

Eine Geschichte ist mir besonders im Gedächtnis geblie­ben. Sie zeigt auch, wie katastrophal die medizinische Versorgung ist. Wir haben einen Mann getroffen. Er sagte, seine Frau würde sterben, niemand würde ihr helfen. Wir waren skeptisch, sind aber mit ihm gegangen. Die Frau hat sich andauernd übergeben, aber die Camp-Polizei wollte keinen Krankenwagen rufen. Wir haben bei der Polizei nachgefragt, schließlich kam dann ein Notarztwagen, der die Frau ins Krankenhaus gebracht hat. Ihr Mann musste im Camp blei­ben, seine Frau durfte kein Handy mitnehmen. Ich weiß nicht, ob die Beiden wieder Kontakt haben. Die griechischen Behörden kümmern sich nicht um die Geflüchteten, in der Regel werden sie ohne Geld aus dem Krankenhaus entlassen und stehen in einem fremden Land allein auf der Straße.

Dahinter steckt ein Prinzip — es lautet Abschreckung. Griechenland ist mit der Versorgung der Geflüchteten überfordert und will um jeden Preis verhindern, dass noch mehr von ihnen kommen. Die Ersatzzelte für das abgebrannte Camp haben keinen Boden, die Menschen müssen auf den Steinen schlafen. Es gibt kein fließendes Wasser, nach dem Toilettengang müssen sich die Bewohner*innen im Meer die Hände waschen.

Am stärksten zeigt sich dieses Prinzip bei der Nahrungsmittelversorgung. Immer wieder werden NGOs von der Polizei daran gehindert, mit ihren Hilfslieferungen bis zum Camp zu fahren. Ich habe eine Frau getroffen, die mir gezeigt hat, wieviel Essen sie pro Tag für ihre fünfköpfige bekommt: zwei 1,5-Liter-Flaschen mit Wasser, ein paar Scheiben arabisches Brot und eine Packung gekochte Nudeln. Das reicht selbstverständlich nicht für fünf Per­sonen, also wollte sie sich erneut in die Schlange vor der Essensausgabe stellen, um eine zweite Portion zu bekommen. Die Schlange war mehrere hundert Meter lang.

Am schlimmsten war aber der Besuch im abgebrannten Camp. Wir haben dort Menschen getroffen, die durch die verbrannten Reste gestreift sind. Wir wollten wissen, was sie suchen. Sie haben geantwortet: »Essen.« Das muss man sich einmal vorstellen. Wir haben zwischendurch auch für Familien etwas Obst, Milch für Kinder oder Wasser gekauft. Ein Kind sagte dann zu mir: »Onkel, kannst du für mich Lego kaufen?«

Ich bin seit fast 25 Jahren Journalist. Wir haben im Team viel über unsere Eindrücke geredet, aber auf Lesbos habe ich ein paar Mal bei der Arbeit weinen müssen. Einmal bin ich durchs Lager gelaufen und ein paar Kinder haben mich um Wasser gebeten. Ich wusste nicht, was sie meinen, dann haben sie auf meinen Rucksack gezeigt. Im Seitenfach hatte ich eine halbvolle 0,5-Liter-Flasche Wasser. Die haben sie sich dann geteilt. Für mich war der Rest Wasser so unwichtig, dass ich ihn schon vergessen hatte, für die Kinder war er existenziell. Du bekommst in Moria hautnah mit, dass mitten in Europa Menschen hungern. Das ist für mich unfassbar.

Bamdad Esmaili hat für »WDRforyou« und die »Aktuelle Stunde« eine Woche lang aus Moria berichtet.