Mindestens Seepferdchen

Neuer Denkansatz in der Wohnungslosenpolitik: Auch in Köln soll nun ein städtisch gefördertes »Housing-First«-Modellprojekt starten, in der Wohnungslose ohne Bedingungen eine Wohnung erhalten. Die Obdachlosen-Beratungsstelle »Vringstreff« ist vorangegangen und hat ein Appartement gekauft. Wir haben den ersten Mieter besucht

Am Anfang erschien Andreas alles suspekt. So unkompliziert sollte es sein, dass sein Leben wieder ganz normal und er glücklich werden könne? Sollte er wirklich Zelt, Schlafsack und Rucksack wegpacken? »Noch immer fasse ich es nicht«, sagt der 42-Jährige. »Ich gehöre wieder dazu. Ich hatte richtig Schwein!« Vier Jahre lang hat Andreas in einem Zelt geschlafen, mal hier, mal da, meist außerhalb der Stadt, im Wald, wo es ruhig ist und die Luft gut. Jetzt besitzt er einen Schlüssel für ein 30 Quadratmeter großes Appartement: Bett, Sofa, Beistelltisch, eine rot funkelnde Einbauküche. An den Wänden hängen Gitarren und eine Ukulele. Schaut er aus dem Fenster seiner Erdgeschosswohnung, bekommt er das Leben auf Ehrenfelds Straßen mit. Seit Mitte Mai hat Andreas ein Dach über dem Kopf, zuvor galt er wie 6000 Kölner als wohnungslos. Andreas ist der bislang einzige Mieter in Köln, der durch »Housing First« eine Wohnung bekommen hat.

Das aus den USA stammende Konzept gründet darauf, dass Wohnen ein Menschenrecht ist. Demnach bekommen obdachlose Menschen sofort eine eigene Wohnung, ohne Bedingungen. Erst danach geht es um die sozialpädagogische Betreuung, die Stabilisierung. »Housing First« ist damit das Gegenteil vom weit verbreiteten »Stufenmodell«, mit dem Wohnungslose zuerst durch Therapien stabilisiert und dann stufenweise an das Leben in einer Wohnung herangeführt werden: vom Nachtquartier über das Übergangswohnheim zur betreuten WG. Die eigene Wohnung steht erst am Ende eines langen Hilfesystems und bleibt oft unerreichbar. Die Gefahr ist groß, abzurutschen und wieder ganz unten zu landen. Sozialwissenschaftler sprechen vom »Drehtür-Effekt«.

Andreas hat das zwar selbst nicht erlebt, aber oft mitbekommen. »Der Weg ist weit und verdammt schwer. Ich kenne keinen, der es geschafft hat«, sagt er. »Viele sind irgendwo geparkt, etwa in einer betreuten WG, und bleiben da hängen. Oder sie rutschen wieder in die Obdachlosigkeit ab, weil sie dem Druck nicht Stand halten.« Andreas wundert sich, dass »Housing First« so langsam anläuft, zumal sich die Bevölkerung häufig über die Menschen auf der Straße beschwere. »Aber ein Ausstieg wird ihnen faktisch unmöglich gemacht. Jetzt gibt es eine Idee, wie man es schaffen kann.« Andreas kennt viele, denen er den Ab-sprung von der Platte zutrauen würde. »Bei manchen muss erst mal die Traurigkeit und Einsamkeit heraus, die sich über die Jahre festgefressen hat«, sagt er. »Das geht nur im eigenen Zimmer und eben nicht in der betreuten WG, wo alle die gleichen Probleme haben und sich runterziehen.«

In der Armutsforschung gilt das Konzept bereits als erfolgversprechender Weg aus der Wohnungslosigkeit. US-Städte wie Salt Lake City konnten die Obdachlosigkeit damit um fast 80 Prozent verringern. Europaweite Studien belegen, dass bis zu 90 Prozent der ehemals Obdachlosen nach zwei Jahren noch in den Wohnungen leben und auch psychisch stabiler geworden sind. Erste Modellprojekte laufen in Berlin, Hamburg oder Düsseldorf. Armutsforscher Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen gilt in Deutschland als der Fachmann für »Housing First«. Er definiert den Ansatz als »das Gegenteil von Trockenschwimmen«: »Schwimmen lernt man ja auch nur im Wasser.« Die bisherige Ausrichtung der Wohnungslosenpolitik in Deutschland sei »schon etwas kurios«, so Busch-Geertsema: »Wie soll man beweisen, dass man wohnfähig ist in einer Situation, in der man gar keine eigene Wohnung hat?« Andreas ist nach einem halben Jahr als Mieter — um im Bild zu bleiben — schon mindestens beim Seepferdchen angelangt. Er hat einen 450-Euro-Job, war beim Zahnarzt, und hat seine Schulden beglichen. Er treibt Sport und gibt wieder Gitarrenunterricht. »Meine Wohnung ist die Basis. Jetzt kann ich loslegen, mein Leben zu regeln«, sagt Andreas. Sein nächstes großes Ziel sei es, »was eigenes auf die Beine zu stellen als Absicherung für später.« Bislang zahlt das Jobcenter seine Miete, das soll sich ändern. Dabei geht er bedächtig vor. »Ich mache step by step, damit ich es nicht verkacke.«

Kai Hauprich arbeitet als Sozialarbeiter beim »Vringstreff«, einer Beratungsstelle für wohnungslose Menschen in der Südstadt. Er besucht Andreas einmal pro Woche, um gemeinsam Probleme anzugehen. »Auf Platte geht das nicht«, sagt der Sozialarbeiter. »Da geht es jeden Tag nur ums Überleben: Schlafplatz, Dusche, Essen, Geld.« Dabei gibt »Housing First« den Menschen nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe und Wertschätzung zurück, sondern ist auch billiger für die Stadt. »Denn die Nebenkosten von Obdachlosigkeit sind teuer: städtische Hilfesysteme, Krankenwageneinsätze, eventuell Aufenthalte in der JVA«, erzählt Hauprich. »Eigentlich gefällt mir aber dieses Kostenargument gar nicht«, sagt er. »Ich stehe hinter dem Ansatz, weil er menschenwürdiger und erfolgversprechender ist.«

Anders als in den skandinavischen Ländern, wo »Housing First« kein Modellprojekt mehr ist, sondern längst politische Strategie, nimmt in Deutschland und auch in Köln Obdachlosigkeit zu. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe leben bundesweit 41.000 Menschen auf der Straße. Dazu kommen 680.000 wohnungslose Menschen, die Notquartiere nutzen, Tendenz steigend.

Der »Vringstreff« möchte diese Situation nicht hinnehmen. Die Beratungsstelle setzt sich seit mehr als einem Jahr dafür ein, »Housing First« auch in Köln zu etablieren. 2019 hat der Verein eine Fachtagung organisiert und Politik und Verwaltung eingeladen, um die Idee zu verbreitern. Anfang des Jahres hat der »Vringstreff« das Appartement in Ehrenfeld gekauft, in dem Andreas jetzt wohnt. Maßgeblich finanziell unterstützt wurde die Beratungsstelle vom »Housing First Fonds«, der vom Düsseldorfer Verein »Asphalt/Fifty Fifty« und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW aufgelegt wird.

Der Ansatz ist anscheinend nun auch in der Kölner Politik und Verwaltung angekommen: Auf Initiative der Grünen wurde im Mai beschlossen, »Housing First« für drei Jahre als Ergänzung zu den bestehenden Angeboten der Wohnungslosenhilfe zu testen. 5,5 Mio. Euro bewilligte die Politik für die kommenden Jahre, davon sollen 500.000 Euro den Sozialträgern für die Betreuung der Menschen und die wissenschaftliche Begleitung zur Verfügung stehen. Für die Schaffung oder die Akquise von Wohnraum sind fünf Millionen Euro in Aussicht gestellt. Wie die Stadtverwaltung das vorantreiben möchte, ist bislang noch unklar. »Einzelheiten stehen noch nicht fest«, heißt es aus der Sozialverwaltung. Marion Heuser, sozialpolitische Sprecherin der Grünen, fordert die Verwaltung auf, schnellstmöglich ein Konzept vorzulegen: »Da muss ein tragfähiges Modell folgen, damit die Gelder auch abfließen und das Housing-First-Programm auch vielfach umgesetzt werden kann.«

Vielleicht weckt der Blick nach Düsseldorf den Ehrgeiz. Dort hat die Beratungsstelle »Asphalt/Fifty Fifty« in den vergangenen fünf Jahren gemeinsam mit dem Paritätischen Landesverband rund 60 Wohnungen finanziert. Mit großem Erfolg: Nur drei Mieter sind in der Zeit wieder abgesprungen. Beim Schwimmen wäre das mindestens ein Silber-Abzeichen.